Edgar Allan Poe: Ligeia

Edgar Allan Poe gilt als Meister der Horrorgeschichte. Diesem seinem Ruf wird er auch in der vorliegenden, weniger bekannten Kurzgeschichte gerecht. Erzählt wird in der Ich-Form. Der Erzähler war in erster Ehe mit Ligeia verheiratet – einer dunkelhaarigen Schönheit, deren Nachnamen er nicht weiss. Nicht mehr weiss, also vergessen hat, oder nie erfahren hat? Selbst das vermöchte der Erzähler nicht mehr zu sagen. Er weiss nur, dass er ihre Eltern, ihre Familie, nie kennen gelernt hat. Ligeia ist ein Ausbund an Schönheit – der Erzähler vergleicht ihre Nase mit denen alter semitischer Skulpturen, ihre Augen mit Erzählungen aus der griechischen Antike. Archaische Topi von Anfang bis Ende. Zudem ist sie ungeheuer belesen, sprachbegabt etc. etc. Vor allem aber fasziniert den Erzähler, was er ihre “Intensität” nennt, die Tatsache, dass sie – gegen aussen hin ein Muster an Ruhe – ihre jeweilige Aufmerksamkeit mit ganzer Leidenschaft auf ein Objekt richtet.

Der Erzähler (auch er: namenlos) sieht eine grandiose Zukunft auf sich und seine Frau zukommen. Doch es kommt anders. Ligeia wird nach ein paar Jahren krank und liegt bald schon im Sterben. Auf dem Sterbebett versichtert sie den Erzähler in stundenlangen Monologen ihrer Liebe zu ihm, ihrer Leidenschaft. Sie verfasst sogar noch ein Gedicht, das uns der Erzähler getreulich überliefert. Es behandelt das gleiche Thema wie die mittelalterlich-barocken Totentänze: Alles Leben ist eitel. Allerdings fehlt die Erlösung im Glauben, die das Mittelalter noch kannte, denn die Götter sind nur Popanze. Das Gedicht ihrem Mann kaum fertig diktiert, stirbt Ligeia – nicht ohne im Sterben noch Gott bzw. den göttlichen Vater anzurufen. Eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Gedicht und letzten Worten, die dem Erzähler allerdings nicht aufzufallen scheint. Fiel sie Poe auf?

Halb wahnsinnig vor Trauer reist der Erzähler in Europa herum – um zuletzt eine neue Frau zu finden, die in allem das Gegenteil von Ligeia ist: Sie ist blond, und der Erzähler kennt ihren ganzen Namen und ihre Familie. Doch auch dieses Glück sollte nicht lange dauern, tatsächlich sogar weniger lange als das erste. Lady Rowena wird bereits im zweiten Monat der Ehe sterbenskrank. Schon während ihrer Krankheit will es dem Erzähler scheinen, dass da noch jemand im Krankenzimmer herumschleicht. Schliesslich stirbt auch Gattin N° 2. Sie wird aufgebahrt, der Witwer bleibt trauernd im Zimmer zurück. Plötzlich gibt die Tote Lebenszeichen von sich. Dann herrscht wieder Ruhe. Das geht so einige Male, bis die Tote aufsteht und umherwandelt. Wer aber kann sich den Schrecken des Erzählers vorstellen, als nicht Lady Rowena vor ihm steht, sondern – Ligeia!

Als guter Erzähler lässt Poe natürlich viele Interpretationsmöglichkeiten offen. Angefangen von der Erklärung der Fakten als Hirngespinst eines überhitzten Gemüts des Ich-Erzählers, über psychologische Interpretationen (kann der hinterbliebene Teil eines Liebespaars seinen ersten, verstorbenen Partner je ganz vergessen, oder wird er irgendwie auf diese unvollendete und dadurch verklärte Liebe fixiert bleiben?) bis hin gar zu theologischen Fragen in Bezug auf Gott und die Auferstehung ist vieles möglich. Der Horror aber, den der Einbruch des Übernatürlichen in die ordinäre Welt verursacht, liegt allen Interpretationen zu Grunde.

Ligeia gehört meines Wissens nicht zu den ganz bekannten Stories von Edgar Allan Poe. Aber bei diesem Autor lohnt auch eine Lektüre der weniger bekannten Sachen allemal.

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