Agatha Christie: The Murder at the Vicarage [Mord im Pfarrhaus]

Agatha Christie ist für mich so etwas wie die Jane Austen des 20. Jahrhunderts. Nur dass diese den Beginn einer Epoche signalisiert, jene deren Ende. Ich meine das Viktorianische Zeitalter, die Zeit zwischen 1830 und 1900, in der Grossbritannien den Höhepunkt seiner Macht und seines Selbstbewusstseins erreichte. Gewiss, Jane Austen war bereits tot, als Viktoria den englischen Königsthron übernahm, Agatha Christie gerade mal 11, als Viktoria starb. Doch Austen signalisiert den Beginn jener Epoche ebenso, wie Agatha Christie deren Ende. Beide Autorinnen verfassen ‘leicht’ – ja seicht – anmutende Literatur. Beider Werke ist die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, nach Harmonie, gemeinsam. Beide Autorinnen finden diese Harmonie im ländlich-dörflichen England ihrer Zeit, in einer Gesellschaftsschicht, wo die Leute zwar reich genug sind, um nicht (viel) arbeiten zu müssen, aber nicht so reich, dass sie zum Jet-Set der Grossstädte gehören könnten. Immer wieder steht diese Harmonie in Gefahr, zerstört zu werden. Immer wieder kann sie – man ist versucht zu sagen: in extremis – gerettet werden. Der grosse Störfaktor dieser Harmonie ist auch bei beiden Autorinnen derselbe: die Sexualität, das Spiel von Anziehung und Abstossung der Geschlechter. Und beide Autorinnen können wegen der Prüdheit ihrer Zeit – eben im Grunde genommen schon bzw. noch immer der viktorianischen – das Kind nicht beim Namen nennen. (Beide dürfen ja nicht einmal eine Schwangerschaft beim Namen nennen!) Dann ist beiden Autorinnen auch noch gemeinsam, dass sie diese Beschränkungen in ihrem Schreiben (in ihrem Leben weniger!) zwar akzeptieren, gleichzeitig aber auch mit feiner Ironie unterlaufen. So viel Ironie verwenden sie, dass es schwierig ist, ihre Werke nicht als Satire zu klassifizieren. Last but not least schreiben beide im Grunde genommen über die Situtation der Frau in ihrer Zeit. Frauen, die zwischen aufkommender Selbständigkeit und Gleichberechtigung einerseits, völliger Entmündigung andererseits eingeklemmt sind. Viele müssen sich ihren Lebensunterhalt selber verdienen, andere (oft auch dieselben!) suchen diesen in einer lukrativen Heirat.

1930 erschien The Murder at the Vicarage – der erste Roman, in dem Miss Marple die Hauptrolle spielte, nachdem sie schon in ein paar Kurzgeschichten vorgekommen war. Miss Marples Heimat ist St. Mary Mead, ein kleines, fiktives Dorf im ländlichen Südost-England. Miss Marple ist die typische englische “Spinster”, ein Wort, für das wir kein deutsches Äquivalent besitzen. Sie ist eine nach aussen prüde und asexuelle ältliche Jungfer, die allerdings das alte “homo sum, humani nihil a me alienum puto” vollständig verinnerlicht hat. So vollständig in der Tat, dass sie einerseits die menschlichen Fehler und Schwächen kennt und auch bei jedem Tatverdächtigen voraussetzt, inkl. der Abwege wie Ehebruch, sexueller Hörigkeit u.a., die vorkommen können; so vollständig, dass sie offenbar auch über alles und jeden im Dorf Bescheid weiss. Sie verfügt über einen scharfen Intellekt und eine unheimliche Beobachtungsgabe. Nachdem sie diese schon in ein paar kleinen und harmlosen Fällen erfolgreich versucht hat, kommt ihr grosser Moment, als Oberst Protheroe, das Dorf-Ekel, im Arbeitszimmer des Pfarrers, Leonard Clement, erschossen aufgefunden wird. Sie macht sehr rasch sieben mögliche Tatverdächtige aus, darunter den Pfarrer und Ich-Erzähler selber. Es gelingt ihr natürlich, zum Schluss den am wenigsten Verdächtigen dieses Mordes zu überführen.

Doch der eigentliche Kriminal-Plot macht nicht das Faszinosum des Romans aus. Es ist die Schilderung eines idyllisch-ländlichen Lebens, das in Tat und Wahrheit so idyllisch nicht ist, wie es scheint. Viele Unterströmungen sind feststellbar, angefangen bei den ständig in allem schnüffelnden alten Jungfern, zu denen Miss Marple gehört, über Geld unterschlagende Hilfspfarrer und andere Hochstapler bis hin zu einem Miniatur-Gigolo, der sich so manche Frau hörig gemacht hat, darunter früher einmal sogar die jetztige Gattin des Pfarrers. Es brodelt und kocht in diesem Topf St. Mary Mead; doch als zum Schluss der Mörder überführt ist, wird wieder der Deckel drüber gestülpt und versiegelt.

Der Leser ist versucht zu sagen: Bis zum nächsten Mord. Fiat idyllam, et pereat mundus…

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