Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt.

Dieser Text – er füllt die Bände 6 und 7 der Sämmtlichen Werke – stellt gewissermassen den Nukleus der Weimarer Klassik dar. Denn der Goldne Spiegel war es, der die Aufmerksamkeit von Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach auf den Philosophie-Professor zu Erfurt lenkte und sie praktisch nach dessen Erscheinen (1772) bewog, den doch schon fast 40-Jährigen als Prinzenerzieher nach Weimar zu berufen. Mit Wieland sollte der erste der vier Klassiker, der älteste auch, nach Weimar kommen.

Der Text an und für sich ist so unklassisch wie möglich. Wieland stellt eine andere Schriftsteller-Generation dar als Herder, Goethe oder Schiller. Er orientiert sich noch stark am Geschmack der vorklassischen Epoche, an der Aufklärung und der Anakreontik. Der goldne Spiegel ist eine staatsphilosophische Abhandlung. Wie seine Vorbilder – Platons Staat und das paradigmenbildende Utopia von Thomas Morus – stellt er in Dialogform staatspolitische Entwürfe vor. Im Gegensatz zu seinen Vorbildern behauptet Der goldne Spiegel allerdings nicht, im Besitze der allein seelig machenden Wahrheit zu sein.

Die Ausgangssituation des erzählten Dialogs ist noch verzwackter als bei Thomas Morus. Der Autor gibt vor, der Übersetzer und Herausgeber einer alten Schrift zu sein, die er in einer lateinischen Version vorgefunden habe. Diese lateinische Version wiederum soll die Übersetzung einer noch älteren chinesischen Version sein. Die chinesische Version ihrerseits erst soll aus dem Scheschianischen übersetzt sein. Das gibt Wieland die Möglichkeit, im Namen des chinesischen oder im Namen des lateinischen Übersetzers Anmerkungen zu machen – oder auch im eigenen. Es gibt ihm die Möglichkeit, Abkürzungen zu nehmen, Auslassungen zu tätigen und Sprünge zu machen, die er als deutscher Übersetzer skrupellos dem lateinischen oder dem chinesischen Übersetzer in die Schuhe schieben kann. Unter der Maske des Herausgebers kann sich Wieland auch höchstlich darüber verwundern, dass doch schon die alten Scheschianer Dinge fast wörtlich gleich formuliert haben wie ein Sokrates oder ein Montesquieu. Damit der Erzählkniffe nicht genug: Das scheschianische Original erzählt vom hindustanischen Herrscher Schach-Gebal, der, an Schlaflosigkeit leidend, sich von seiner Lieblingsfrau und einem Doktor der Philosophie namens Danischmend Geschichten erzählen lässt. Er verbittet sich dabei die lüsternen Geschichten im Stil von Tausendundeiner Nacht explizit, und so kommen die beiden auf die Idee, ihm die Geschichte des Staates Scheschian vorzutragen – angeblich nach einem alten Buch. Masken über Masken…

Die Geschichte des Staates Scheschian besteht aus verschiedenen (sozial-)politischen Experimenten, die die jeweiligen Herrscher durchgeführt haben – die meisten dieser Herrscher, ohne es zu beabsichtigen, indem ganz einfach ihre jeweiligen persönlichen Dispositionen die jeweiligen Experimente erzeugt haben. Vor allem geht es dem Autor darum, den schlechen Einfluss von Mätressen und Preistern auf die Herrschenden aufzuzeigen. Wieland verlässt nirgends den Boden eines aufgeklärten Absolutismus: Das Verhältnis von Bauernstand, Adel und mehr oder weniger absolut regierendem König untereinander zu definieren, ist sein höchstes Ziel. Dass dabei der Bauernstand zwar in seinem freien Wirken bestärkt werden soll, aber im übrigen nur ein notwendiges Minimum an (Aus-)Bildung erhalten soll, berührt heute doch ein wenig unangenehm; der Philosophie-Professor musste sich da allerdings in bester Gesellschaft mit Platon und anderen wissen. Evolution statt Revolution war Wielands Maxime – Volksaufstände wurden in Scheschian immer nur von übel Meinenden oder Irregeleiteten angezettelt, auch wenn Wieland grosse Sympathie mit dem ausgebeuteten Volk beweist.

Im übrigen ist Wielands Werk gespickt mit ironischen Seitenhieben, nicht nur auf Herrschende und ihre Berater, sondern auch auf das Werk selber. Den für kurze Zeit erreichten Idealzustand Scheschians erklärt Schach-Gebal kurzerhand für nur möglich, weil dem idealen Herrscher auch ein ideales Volk zugeeignet wurde – sprich: Weil das Ganze im Grunde genommen pure Fiktion ist. (Womit er freilich Recht hat.) Dass der Idealzustand des Idealstaates mit seiner idealen Verfassung nicht aufrecht erhalten kann, liegt dann im nur allzu Menschlichen der Nachfolger des idealen Herrschers. So nimmt auch Scheschian den Weg alles Irdischen und geht zu Grunde, so sehr zu Grunde, dass weder vom Staat, noch vom Volk, noch von der Sprache irgendwelche Spuren auf uns gekommen sind.

Staatsphilosophie, augenzwinkernd vorgetragen, letztlich im Bewusstsein der Nutzlosigkeit dieses Unternehmens. Man kann Wieland Opportunismus vorwerfen, mangelnden Mut, weil er immer wieder zurücknimmt, was er gerade gefordert hat. Ich finde, er hat sich im Rahmen des für seinen Charakter und seine Lebenssituation Möglichen doch recht weit aus dem Fenster gelehnt. Vieles von dem, was er Danischmend in Gedanken als Kritik an Schach-Gebal äussern lässt, hätte ihm je nach Veranlagung und Tagesform eines dieser absolutistisch herrschenden Kleinfürsten gefährlich werden können.

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