Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe. Band 3: Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen

Les Fleurs du Mal stellen Baudelaires grosses Vermächtnis an die Weltliteratur dar. Ohne sie hätte die Literatur, und vor allem natürlich die Lyrik, des 20. Jahrhunderts zumindest in Frankreich und in Deutschland anders ausgesehen. Der Symbolismus greift ebenso auf sie zurück wie der Expressionismus – Stefan George ebenso wie Gottfried Benn. Ja, in Frankreich gilt Baudelaire wegen seiner Fleurs du Mal als (Mit-)Begründer des Symbolismus.

Doch was ist so neu, so grossartig an den Fleurs du Mal, dass sie seminal werden konnten, Epoche machend?

Die Form? Baudelaires Sprache ist im Grossen und Ganzen ruhig und flüssig. Die Erregtheit des Expressionismus geht ihm fast völlig ab. Baudelaire verwendet klassische Vers- und Strophenmasse. Ohne dass ich es jetzt nachgezählt hätte, habe ich den Eindruck, dass mindestens ein Drittel der Gedichte, wenn nicht mehr, in der strengen Sonett-Form geschrieben sind. Goethe war schon 50 Jahre früher innovativer und experimenteller. Und Hölderlin, ebenfalls 50 Jahre früher, verfügte über weit mehr Talent, altehrwürdige Versmasse einer zeitgenössischen Sprache dienstbar zu machen. Les Fleurs du Mal sind allerdings als Ganzes in hohem Masse durchstrukturiert. Da sind nicht nur die (seit 1861) sechs thematisch streng geschiedenen Bücher, deren Reihenfolge nicht zufällig ist (Spleen et Idéal, Tableaux parisiens, Le Vin, Fleurs du Mal, Révolte, La Mort) – auch innerhalb der Bücher sind Zyklen auszumachen, die sich z.B. einzelnen Frauen widmen. Als Ganzes und im Einzelnen streng durchkomponiert.

Der Inhalt, das Thema? Wie schon der Titel der sechs Bücher verrät, ist das alles überschattende Thema der Fleurs du Mal die Grossstadt, bzw. das Übel der Grossstadt, bzw. die Figur des Grossstädters. Die Grossstadt, also Paris, ist zwar im eigentlichen Sinn oft nur die Folie, der Hintergrund, der Horizont des Ganzen. Aber selbst das ist (so) neu. Baudelaire verklärt die “City” (wie wir heute sagen würden) keineswegs. Für ihn stellt die Grossstadt etwas Hässliches und Morbides dar, auch wenn der Ennui, den die Gedichte verströmen, als solcher nicht neu ist. Allerdings verdankt er vieles an dessen Darstellung der sog. “Schwarzen Romantik”, der “Gothic Novel” seiner Zeit – und natürlich Edgar Allan Poe. Der Franzose geht allerdings in vielen Details weiter als seine Vorgänger, spricht die Dinge klarer, direkter an – hierin ein Wegweiser auch des Realismus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Romantik abzulösen begann.

Im Grossen also nichts Neues, im Einzelnen verdanken die Gedichte ihre literarische Sprengkraft v.a. der Kombination von strenger, altehrwürdig-überlieferter Form und zum Teil gewagtem neuen Inhalt. (Einige Gedichte wurden seinerzeit von der Zensur aus der ersten Ausgabe wegen Obszönität oder Blasphemie entfernt, und Dichter und Verleger mit einer Busse belegt.)

Und heute? Der Leser des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr schockiert über Obszönitäten oder Blasphemie. Die heutige Mega-City übertrifft die Grossstadt der Mitte des 19. Jahrhunderts um das Hundertfache. Ennui, Lebensekel hat uns der Expressionismus näher gebracht. Aber was als Baudelaires Vermächtnis bleibt, ist die einzigartige Kombination von klassischer, formaler Strenge und inhaltlicher Freizügigkeit.

Vielleicht aber schätze ich mit zunehmendem Alter auch einfach das Einhalten gewisser Formen immer mehr …

(Zu meiner Ausgabe: Die Gedichte wurden zweisprachig wiedergegeben; die Übersetzung ist in Prosa. Die Herausgeber sind zu Recht der Meinung, dass der Zwang, ein Versmass einhalten zu müssen, oder gar noch die Reime, zwangsläufig den Inhalt des Textes zugunsten der Form verändern müssten. Anders steht es für sie – und für mich! – mit uneigentlichen Übersetzungen, eigentlichen Aneignungen, wie es z.B. die erste “Übersetzung” von Stefan George war, oder die von Walter Benjamin, die eben mehr George oder Benjamin vorstellen als Baudelaire. Um die Schönheit von Baudelaires Les Fleurs du Mal ganz geniessen zu können, sind wohl Kenntnisse des Französischen unumgänglich. Aber jede gute Lyrik will in ihrer Muttersprache gelesen werden.)

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