Gedanken zu W. Hochkeppels “Mythos Philosophie”

Der Titel dieses Buches ist schon fast Programm: Hochkeppel vergleicht die heutige Situation der Philosophie mit jener vor 2500 Jahren, als der Mythos vom Logos abgelöst wurde. Nur dass heute die Philosophie den mythischen Status übernommen hat und die Wissenschaften an einer weiteren Entmythologisierung arbeiten. Wodurch sich grundsätzliche Fragen ergeben: Wozu heute noch Philosophie, in welcher Form, in welchen Bereichen? Hat sich die Philosophie ebenso überlebt wie mythologische Welterklärungen von streitsüchtigen Göttern oder allmächtigen Demiurgen?

Hochkeppel scheint diese Frage im Grunde zu bejahen. Auf wenig systematische, aber trotzdem gut lesbare Weise untersucht er die verschiedenen, modernen (1976 erschienen, aber die Aktualität der Überlegungen hat sich über die Jahre kaum verloren) Strömungen in der Philosophie auf ihre Brauchbarkeit. Wissenschaftstheorie etwa, die Behandlung heuristischer und methodologischer Vorgehensweise, die eben jenen alles beherrschenden Wissenschaften so etwas wie eine Metatheorie sein will. Und die doch – und hier kann man sich Hochkeppel anschließen – nicht viel anderes ist als eine Theorie post festum, die das beschreibt, was in der Wissenschaft geschieht, aber in ihren Forderungen von dieser weitgehend ignoriert wird. Sie versagt also im Versuch, eine normative Methode zu entwickeln, welche durch ihren Einsatz zu anderen, besseren Resultaten der Forschung führt. Ihr scheint also nur noch das Postulieren des Methodenpluralismus a la Feyerabend zu bleiben, der auch die Wissenschaft wieder mit dem Mythos gleichsetzt und damit den Kreis endgültig schließt.

Ähnlich ergeht es auch anderen Strömungen, der Hermeneutik eines Gadamer (Heidegger), die sich zwar von der Wissenschaft grundsätzlich unterscheidet und dieser ganz bewusst nicht in die Quere kommen will (kann), die aber dadurch einen Großteil der genuin philosophischen Probleme an diese Wissenschaften delegieren muss. So wird Philosophie zur Begriffsdichtung (Carnap), zu einem Ausfluss des menschlichen Denkens, der auf die tatsächliche Probleme in unserer Welt nicht mehr Einfluss nehmen kann als ein Roman. Eine solche Philosophie ist auch jedem rationalen Diskurs entzogen, da ihre Behauptungen eine Exegese erfordern (und/oder eine Polemik). Wie ansonsten reagieren auf Sätze wie “Die Vierung west als das ereignende Spiegel-Spiel der einfältig einander Zugetrauten. Die Vierung west als das Welten von Welt” (Heidegger), wie Derartiges einer Analyse unterziehen, die auch nur einen Großteil der Exegeten überzeugen könnte? Solche Philosophie ist atavistisch: Sie hat mehr vom Mythos als von der Philosophie.

Bleiben die aktionistischen Ansätze der dialektische Materialisten, die – nach Marx – zur Erkenntnis gelangt sind, dass es eben darauf ankommt, die Welt zu verändern und nicht neu zu interpretieren. Dass aber Handlung ganz ohne Denken sich in Praxis kaum bewährt, ist offenkundig, die philosophische Gleichsetzung von Geist und Tat ist eher ein dialektische Purzelbaumschlagen, das zu dem bereits vorher erwünschten Ergebnis führt. Oder – wie im real existierenden Sozialismus – zu einer Dogmatisierung bestimmter Strömungen mit all den negativen Konsequenzen, die eine solche mitzubringen pflegt. Ob man das Sprachrohr Gottes oder das des ewigen dialektischen Materialismus ist: Eher früher als später werden Jesaja und Marx in ihrem Absolutheitsanspruch als bestenfalls lächerlich erscheinen.

Dass die analytische Philosophie nicht zur Rettung der Disziplin beitragen kann liegt schon in ihrem Progamm begründet: Denn sie gibt ohnehin vor über nichts anderes sprechen zu können als über Sätze diese Welt betreffend. Und das “Klarwerden” dieser Sätze, das Wittgenstein fordert, versteht die Wissenschaft selbst sehr viel besser als die sie unterstützende Philosophie. So kann man sich wieder nur von dieser Wissenschaft abwenden und “erkenntnisleitende Interessen” im Sinne Habermas’ oder die ideale Kommunikationsgesellschaft nach Apel bemühen. Aber so wie die Dreiteilung Habermas in emanzipatorische, technische und praktische Erkenntnisinteressen (etwas, das er im übrigen von Scheler – ohne Hinweis auf den Urheber – abgekupfert hat) nirgendwo in der Realität tatsächlich widergespiegelt wird und sich als Schimären herausstellt, so muss man wohl auch die “ideale” Diskursivität in die Zeit der Parusie verlegen.

So gibt es in der rezenten Philosophie keine Proponenten, nur noch Oponenten: Man beweist schlüssig, dass die Philosophie des anderen nachweislich Unsinn ist, während die Gegenseite mit ebenso großem Erfolg die Widersprüchlichkeit des eigenen Denkens aufzeigt. Dies die endgültigen Zeichen des Niedergangs, ein ideen- und substanzloses akademisches Gezerre um Begriffe, pseudoelitäres Gewäsch um nichtvorhandene Inhalte.

In manchem, vielem kann man diesen skeptischen Betrachtungen zustimmen. Allerdings erhebt sich für mich – etwa in Bezug auf die Wissenschaftstheorie (die eigentlich die Nachfolge der Erkenntnistheorie angetreten hat) – die Frage, ob ihr denn nicht Aufgaben zugemutet werden, die sie weder erfüllen kann noch soll. Soll sie etwa tatsächlich eine Heuristik, eine Methodologie der Forschung vorgeben? Und wäre sie denn wirklich überflüssig, wenn sie diesen normativen Aspekt nicht erfüllen könnte? Hier muss schon grundsätzlich zwischen Heuristik (bei der ich in jeder Hinsicht für die absolute Methodenvielfalt eines Feyerabend plädiere) und Methodologie unterschieden werden. (Methodologische Kriterien lassen sich leichter vorstellen, die Überprüfung erfolgt meist nach bestimmten Kriterien, während es sicher keine algorithmische Anleitung für das Finden einer Lösung von Problemen gibt.) Im Hintergrund solcher (normativer) Forderung scheint mir immer noch die Idee der Letztbegründung zu stehen: Sinnvoll ist einzig das, was dann sicher und unumstößlich für alle Zeit in Stein gemeißelt ist. Solche Forderung hat sich aber längst als unsinnig erwiesen (nicht nur in der Philosophie), dieses Anspruchsdenken ist und war immer zum Scheitern verurteilt. Ist denn also nicht auch der Vorgang des wissenschaftlichen Denkens, Vorgehens, Prüfens eine Analyse wert, auch wenn sie keine normativen Ergebnisse zeitigt? Ist die Musiktheorie dann überflüssig, wenn sie der Musik nicht vorschreibt, wie sie auszusehen hat? Liegt nicht der Sinn einer solchen Beschäftigung immer dazwischen: Sowohl in der Beschreibung des Vergangenen und im Entwickeln von neuen Ideen, wobei man dann auf seine eigene Analyse zurückgreifen kann?

Wobei es auch noch einen anderen Aspekt gibt: Jenen der Freude am Denken, am Erkennen – gänzlich ohne pragmatischen Einschlag (das etwa hat Habermas mit seinen erkenntnisleitenden Interessen nie begriffen: Dass der Naturwissenschaftler schlichte, pure Freude an seiner Forschung haben kann, dass solches Denken – egal ob in geistes- oder naturwissenschaftlicher Hinsicht – eine Befriedigung in sich selbst darstellt). Das brächte für den Philosophen noch einen großen, weiteren Tätigkeitsbereich: Jenen der Philosophiegeschichte. Abgesehen davon, dass man aus diesem reichen Fundus an Ideen sicherlich auch einiges Nützliche für die Gegenwart, das Leben gewinnen kann, kann eine solche Forschung dem Forschenden zu einer Hingabe werden – und einem Genuss. Muss sich ein Historiker für seine Begeisterung für Geschichte rechtfertigen oder ist die Geschichtswissenschaft nur sinnvoll dort, wo sie einen pragmatischen Nutzen für die Gegenwart zeigt? Gibt es nicht einfach eine Freude am Fragestellen, Staunen, an Paradoxien, Zweifeln am Selbstverständlichen, an Kritik? (Die Freude am aporetischen Denken hat dies Nicolai Hartmann zurecht genannt.) Ich glaube, dass es für die Philosophie noch unzählige sinnvolle (und sinnlose) Betätigungsfelder gibt, dass sie sich allerdings davon freimachen muss, Gewissheiten bieten zu wollen. Und dass sie, wenn sie nur noch “Begriffsdichtung” ist, akzeptieren muss, auch als solche Dichtung behandelt zu werden. Vielleicht hat diese permanente Philosophiekrise denn auch etwas Positives: Dass man sich auf wirkliche Probleme besinnt oder aber bestimmte Trennungen – wie die oben erwähnte – schlicht anerkennt. Dies könnte zur Folge haben, dass das bloß akademische Philosophieren an Stellenwert verliert, die Freude am eigenen Denken hingegen wieder stärker zum Zuge kommt. (Gemäß dem Satz eines Literaturprofessors, der da – ein wenig nachdenklich – mir gegenüber meinte, dass er schon lange keinen Roman mehr aus purer Neugierde oder Freude gelesen habe. Das gilt mit Sicherheit auch für Philosophieprofessoren.) Aber wahrscheinlich ist auch das zu optimistisch gedacht. Eines aber wird sich mit Sicherheit – weil für den Menschen konstituierend – nicht verlieren: Die Freude am Denken, die Neugier, das Erhebende, Begeisternde von Erkennen und Erkenntnis.

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