Johann Gottlieb Fichte: Werke V

Wenn wir es genau nehmen, ist Fichte schon seit längerem in der Öffentlichkeit nicht mehr als Philosoph tätig. Zwar lehrt er immer noch (bzw. schon wieder) – mittlerweile an der neu gegründeten Universität Berlin. Doch gegenüber dem breiten Publikum hält er seine philosophischen Werke zurück. Er fühlt sich in der und von der breiten Öffentlichkeit missverstanden. Was war zuerst: das Huhn oder das Ei? Fichte reagiert, indem er seine philosophischen Gegner Dummköpfe schilt und behauptet, dass seine Philosophie nur kritisieren dürfe, wer sie verstanden und internalisiert habe. Also nur er selber. In diesem Sinne wird nun auch Schelling – als letzter seiner Weggenossen – herunter gemacht; in diesem Sinne veröffentlicht Fichte ein kurzes, in meiner Ausgabe keine 10 Seiten umfassendes Pamphlet Zu “Jacobi an Fichte”. (Interessant höchstens Folgendes: Ich dachte immer, Turgenjew hätte – in Väter und Söhne – den Begriff des “Nihilismus” geprägt, finde ihn aber nur bereits in den pamphletischen Schriften Fichtes aus den 1815er Jahren, und zwar eindeutig im Sinne einer Diffamierung des Gegners.)

Dafür wird Fichte jetzt auf einem andern Gebiet tätig: als Publizist. Fichte ist nach Lessing der erste, der die Figur des sich allerorts einmischenden Intellektuellen in Deutschland einführt. Ob dem Franzosenhasser Fichte bewusst war, dass er damit eine genuin französische Kulturform kopierte? Denn, was den französischen Intellektuellen im Kampf gegen den Absolutismus des französischen Königs Recht war, war nun Fichte im Kampf gegen den noch viel mehr gesteigerten Absolutismus eines Napoléon billig. Der französische Kaiser stand um diese Zeit auf dem Höhepunkt seiner Macht. Praktisch ganz Mitteleuropa stand unter seiner Gewalt: Russland und Österreich hatten sich zurückgezogen; England beherrschte die Meere und hätte wohl Napoléon ruhig auf dem Festland schalten und walten lassen, hätte der nicht auch die See beherrschen und England besiegen wollen; Preussen – und das gab wohl für den mittlerweile in Berlin lebenden Fichte den Ausschlag – Preussen war ein Vasallenstaat Frankreichs geworden.

Gelesen haben muss man von allen Texten, die Band V der Werkausgabe umfasst, wohl nur einen: die Reden an die Deutsche Nation. Der Rest (Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit / Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre / Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben / Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Grundrisse / Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten) stellt entweder Parerga und Paralipomena zu den Reden dar, oder zur Wissenschaftslehre (ohne zu beiden viel anderes oder Neues beizutragen als wir schon wissen).

Die Reden an die deutsche Nation sind vielleicht Fichtes bekanntestes Werk. Man könnte auch sagen: sein berüchtigstes. Für letzteres kann Fichte selber allerdings relativ wenig. Er schrieb die Reden im Kontext der französischen Expansion über ganz Mitteleuropa. Die wenig einfühlsame Herrschaftspolitik Napoléons weckte nicht nur in Fichte jene bis dato unbekannten Gefühle von Patriotismus und Chauvinismus. Fichte fühlte sich im Namen der ‘deutschen Nation’ durch die Franzosen erniedrigt. In seinen Reden sucht er nun einerseits Trost in der Meinung, dass trotz der aktuellen Niederlage (und in jenem Moment sass Napoléon so fest im Sattel, dass für seine Herrschaft über Preussen kein Ende abzusehen war!) die Deutschen (zu denen er gleich auch Schweden, Dänen und Norweger zählt) das gesündere und damit überlebensfähigere Volk seien. Doch Fichte tröstet nicht nur – er sucht auch Wege aus der Krise. Der ehemalige Hauslehrer (der in dieser Funktion daran scheiterte, dass er die Meinung vertrat, vor den Kindern müssten erst die Eltern erzogen werden!) führt nun seine pädagogischen Ideen ins Grosse aus. Schulen müssten gegründet werden, um dem Volk, der breiten Masse (wie wir heute sagen würden), eine gesunde geistige Grundlage zu vermitteln. Fichte schwärmt von Pestalozzi, will gar Lehrer an Pestalozzis Institut ausbilden lassen und dann Grundschulen in Pestalozzis Sinn in Deutschland gründen, damit die deutsche Nation daran erstarken könne.

(Dass später der Nationalsozialismus auch Fichtes Reden an die deutsche Nation umgedeutet hat, und Fichte sozusagen zum Boten der eigenen Ideologie machte, stand in Anbetracht des allgemeinenen Inhalts der Reden zu erwarten. Aber so, wie das Christentum das Alte Testament ziemlich verbiegen musste, um seine eigene Ideologie darin zu finden, musste auch der Nationalsozialismus den guten Fichte ziemlich verbiegen. Wohl findet sich im Geschlossenen Handelsstaat eine im weitesten Sinne ‘sozialistische’ Philosophie, die auch national angewendet werden konnte, wohl ist auch Fichte nicht frei von Anti-Semitismus – aber ob der ehemalige Aufklärer in einem Absolutismus germanischer Herkunft hätte leben können oder wollen, wage ich zu bezweifeln.)

Fazit: Man muss von Fichte bei weitem nicht alles gelesen haben – die Reden an die deutsche Nation, mit der sich der ehemalige Philosoph an die Spitze der anti-französisch-patriotischen Bewegung stellt, die schliesslich mit zu Napoléons Untergang beitragen sollte, aber schon.

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