Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River [Hudson River Bracketed]

Edith Wharton ist die Grand Old Lady der US-amerikanischen Literatur. Ihr Thema ist New York – das alte New York, aus der Zeit, bevor der Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts die alteingesessenen, de facto sich als Aristokratie gebärdenden Familien korrodiert hatte. Daneben galt ihre Liebe der Architektur und der Gartenbaukunst – in Theorie und in Praxis.

Diese ihre Lieben und Themen finden sich alle im Alten Haus am Hudson River wieder. Ein altes Haus am Hudson River1) und sein Garten sind die Plätze, wo der junge Vance Weston immer wieder zu seiner Bestimmung zurückgerufen wird. Nicht, dass nun das Haus oder sein Garten in allen Details geschildert würden (Wharton bleibt im Grunde genommen recht vage darin) – aber es ist ein altes Haus, das einer entfernten Verwandten gehört, in dem Vance eine riesige Bibliothek findet, und darin in alten, wertvollen Bänden versammelt die grosse Literatur dieser Welt. Es ist in diesem Haus in der New Yorker Provinz, wo der aus einer noch weiter entfernten Ecke der Provinz stammende Vance zum ersten Mal Coleridges Kubla Khan entdeckt. Und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass ihn diese Entdeckung umhaut. Vance realisiert, dass alles, was er bisher an Gedichten geleistet hat (und Vance hielt sich für einen guten Dichter!), nur Stümperei war. Schon vorher war es der Garten, und ein erstes, noch unschuldiges Rendez-vous mit einer entfernten Verwandten, die auf Vance einen tiefen Eindruck gemacht haben. Diese Verwandte ist etwa 5 Jahre älter als Vance, aber, was die Initiation in die Künste, in die Literatur, betrifft, bedeutend weiter als ihr provinzieller Cousin.

Vance realisiert, dass er ins nahe New York muss, um als Autor zu reifen – und um Erfolg zu haben. (Die fast 100 Jahre nach der Entstehung des Romans Ein altes Haus am Hudson River im von Chad Harbach herausgegebenen Band MFA vs NYC von einem Teil der US-amerikanischen Literaturszene vertretene Theorie, dass nur Erlebnisse in der harten Grossstadt einen Menschen zum vollgültigen Autor reifen lasse, dass auch nur dort die relevante Szene in Form von Verlagen und Verlegern zu Hause ist, findet sich also schon 1929 wieder.)

Nun, New York (bzw. die dortigen Verleger und Verlage) lassen ihn reifen – sie lassen ihn allerdings auch fast verhungern. Immer wieder ist es – nicht seine Frau, Laura Lou (diese ist noch hilfloser als er – auch, weil sie todkrank ist), sondern seine entfernte Verwandte Heloïse Tarrant, genannt Halo (Name und Spitzname sind beide gleich lächerlich, sagt sie von sich), die ihm den Zugang zu Bibliothek und Garten von jenem alten Haus ermöglicht, oder auch den Zugang zu ihrer eigenen Bibliothek, wenn Vance auf ein in der Redaktion der Literaturzeitschrift, für die er arbeitet, gefallenes Wort hin die Russen entdecken will, ja muss.

Whartons langjähriger Freund und Kamerad im europäischen ‘Exil’, Henry James, hat ihr geraten, unbedingt an New York als Thema festzuhalten. Sie befolgte seinen Rat, auch wenn im vorliegenden Roman die Stadt weniger wichtig ist, als z.B. in The Age of Innocence. Aber als Folie, als Schauplatz aller quasi negativer Eingriffe in die Laufbahn des Dichters Vance Weston, hat sie dennoch nicht darauf verzichtet.

Wharton folgte James im übrigen auch darin, dass sie konsequent auf das 1929 in Schwung stehende Stilmittel des ‘stream of consciousness’2) verzichtete. Statt dessen haben wir – wie bei James – detaillierte Schilderungen der Gedanken und Gefühle aus auktorieller Sicht vor uns. Auch scheinbare Nebenfiguren werden detailliert geschildert und erscheinen so voll prallen Lebens und Realismus’.

Ein altes Haus am Hudson River ist kein Stadtroman, es ist die Geschichte des Werdegangs eines Künstlers, ein Entwicklungsroman also, aber auch ein Künstlerroman, in dem die Frage nach der Bedeutung der Kunst, des literarischen Schreibens und der Existenz des Künstler in seiner Zeit (Rüdiger Görner im Nachwort meiner Manesse-Ausgabe) gestellt und konsequent entwickelt wird. Und, weil alle Figuren, auch die unwichtigen, liebevoll und detailliert gezeichnet sind, stellt der Roman auch purstes Lesevergnügen dar.


1) Der Originaltitel, Hudson River Bracketed, bezieht sich übrigens auf ein relativ obskures Buch des amerikanischen Landschaftsarchitekten A. J. Downing (Cottage Residences: or, A Series of Designs for Rural Cottages and Adapted to North America) von 1842, in dem er die Architekturstile in griechisch, chinesisch, gotisch und toskanisch (bzw. italienisch) unterteilt, und in Neu-England einen weiteren Stil gefunden haben will: Hudson River Bracketed. Damit bezeichnet er Villen, die zur Verschönerung ein reiches Mass an Konsolen und Verstrebungen (eben: brackets) aufweisen.

Ein ideales Beispiel dafür ist Downings eigenes Haus (am Hudson River!), das auch als Beispiel dafür dienen kann, was sich Wharton unter ihrem alten Haus am Hudson River vorgestellt hat:

Residenz_des_Archtitekten_Andrew_Jackson_Downing
Downings eigene Residenz. Gem. Wikipedia lizenzfreier Scan aus dem oben genanntem Buch.

2) Den englischen Ausdruck hat neckischerweise Henry James’ Bruder William in die Literaturtheorie eingeführt.

4 Replies to “Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River [Hudson River Bracketed]”

    1. Ja. Dabei ist keine/r der Protagonisten und -innen im Grunde genommen “bibliophil”, und die Beschreibung der Bibliothek recht vage, wie alle ‘geografischen’ Beschreibungen in diesem Buch.

      1. Lesevergnügen pur – dem kann ich nur zustimmen. Aber Vance würde ich die Eigenschaft “bibliophil” nicht absprechen, er entspricht in seiner Wissens- und Lesegier, im Spüren des Altehrwürdigen von Büchern und Literatur durchaus diesem Typus.

        Ich habe die Ausgabe des Manesse Verlages (Übersetzung Andrea Ott) gelesen -alles ganz wunderbar, aber: Wer nur kam auf die unsägliche Idee, den Roman mit Fußnoten zu versehen, Fußnoten, in denen man über so abseitige Dinge wie Pantheismus oder die Bedeutung des 4. Juli in den USA informiert wird? Ein absolutes Unding …

        1. Zu Vance: Jein. Er hängt für meinen Geschmack letztlich doch mehr am Text. Will sagen: Er würde heute wohl e-books lesen und das Altehrwürdige eines Buchs höchstens in zweiter Linie geniessen.

          Zur Manesse-Ausgabe: Die habe ich auch gelesen. Aber, aus Erfahrung gewitztigt, die Fussnoten schlicht und ergreifend überschlagen. Die sind tatsächlich offenbar gedacht für … na ja … sagen wir … Sextaner …

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