Colin Goldner: Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs

Der Dalai Lama gilt – spätestens seit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1989 – als der Inbegriff des selbstlosen und gewaltfreien religiösen Führers und – bei seinen Anhängern – als “Ozean der Weisheit”, so eine Übersetzung seines Titels. Goldner bemüht sich darum, einen anderen Dalai Lama zu präsentieren: Einen, der Geschichtsklitterung und Machtpolitik betreibt und dessen Weisheit bestenfalls mit den inhaltsleeren Sentenzen auf Gratiskalendern konkurrieren kann.

Tatsächlich ist der Buddhismus (egal welcher Richtung) eine Reiligion, die der Vernunft einiges abverlangt: Dämonenglaube, Wiedergeburt als Grottenolm oder Nacktmull (oder aber auch als Frau, sofern man genügend schlechtes Karma angehäuft hat), astrologischer Firlefanz und Höllenstrafen – nichts wird ausgelassen. Für den Esoteriker sind derlei Opfergaben auf dem Altar der Rationalität kein Problem: Er pflegt zu fühlen und zu spüren, auch dort, wo es durchaus angebracht wäre, den Verstand (so vorhanden) einzusetzen. Wie auch immer: Alle Religionen – egal welcher Provenienz – fordern einen derartigen Tribut (nicht umsonst hat auch Luther verächtlich von der “Hure Vernunft” gesprochen).

Goldner teilt sein Buch in zwei Stränge: Auf der einen Seite Leben und “Werk” des Dalai Lama – auf der anderen historische und religiöse Hintergrundinformationen. Und das Konzept kann bis zur Buchhälfte als durchaus gelungen bezeichnet werden, im weiteren Verlauf dünnt das Ganze allerdings aus, vom Dalai Lama gibt es nicht viel mehr zu berichten als sentenzenhafte Wortspenden und Ehrendoktorate, der Informationsteil verkommt zu einer persönlichen Abrechnung des Autors mit der buddhistischen Szene.

Die Darstellung der Geschichte Tibets entlarvt das vom Dalai Lama entworfene Bild eines glücklichen, gewaltlosen Tibets vor dem Einmarsch der Chinesen als Schimäre. Zum einen war Tibet fast immer Teil des chinesischen Imperiums (selbst in der Zeit zwischen 1913 – einseitige Proklamation der Unabhängigkeit Tibets – und 1950 gab es keinerlei formelle Anerkennung durch andere Staaten), zum anderen handelte es sich hierbei um einen Feudalstaat, in dem ein Großteil der Bürger in Leibeigenschaft gehalten wurde, sodass der Einmarsch der Chinesen tatsächlich für einen großen Teil der Bevölkerung ein mehr an Freiheit brachte. Allerdings gingen Errungenschaften wie eine stark verbesserte Schulbildung oder die Schaffung von Infrastruktur oder Krankenfürsorge mit den in China üblichen Repressionen der Meinungsfreiheit einher. Nach mehreren Einigungsversuchen floh der Dalai Lama 1959 nach Indien ins Exil (der von seinem Bruder geführte und der CIA unterstützte Widerstand war erfolglos geblieben), bildete dort eine Exilregierung, die allerdings niemals eine demokratische Legitimierung erfuhr und von keinem Staat anerkannt wurde.

Unter chinesischem Einfluss wurde die Zwangsrekrutierung von Kleinkindern (von zweieinhalb Jahren aufwärts) für die Klöster verboten, das Mindestalter für einen Eintritt ins Kloster wurde auf 16 Jahre festgesetzt. Der Dalai Lama befürwortet hingegen nach wie vor die Praxis, Kleinkinder in Klöster zu geben: Lassen sich doch auf diese Weise am ehesten fanatische Parteigänger für die eigene Sache gewinnen. Er selbst (als Zweieinhalbjähriger ins Kloster verbracht) kann durchaus als Opfer dieser Vorgehensweise angesehen werden: Wer nach Trennung von seiner Familie jahrelang – u. a. durch körperliche Züchtigung – beeinflusst und indoktriniert wurde, ist wohl kaum in der Lage, eine kritische Haltung gegenüber den vermittelten Glaubensinhalten zu entwickeln. So nimmt es denn auch nicht wunder, dass er sich tatsächlich für die Reinkarnation des verstorbenen Dalai Lamas bzw. eines Gottes hält, an obskure Machenschaften wie das Staatsorakel oder an wundersame Methoden der tibetischen Medizin glaubt*.

Das eigentliche Phänomen “Dalai Lama” ist aber seine PR-Arbeit: Über Jahrzehnte (und vor allem nach dem erwähnten Friedensnobelpreis 1989, der, wie so oft, aus politischen Überlegungen heraus verliehen wurde) hat er sich im Westen zu einem Friedens- und Weisheitsapostel hochstilisiert, den zu kritisieren oder gar lächerlich zu finden mittlerweile ein Sakrileg darstellt. Politiker aller Couleur hofieren ihn, er ist ein beliebter Talkshowgast (wo Wohlmeinende seine Weisheit und sein Lächeln bewundern, nur wenige seine Platitüden und sein oft schon debil wirkendes Gegrinse bestaunen), ihm wurden mehr als 20 Ehrendoktorate verliehen und er wurde mit unzähligen wichtigen oder weniger wichtigen Preisen ausgezeichnet. Daran hat auch seine Nähe zu ehemaligen Nationalsozialisten (der bekannteste unter ihnen ist Heinrich Harrer) oder dubiosen Sektengurus wie Shoko Asahara nichts ändern können: Auf einen kritischen Zeitungsartikel kommen tausend Lobeshymnen. Das ist angesichts der Fakten tatsächlich als Wunder zu bezeichnen: Ein Gottkönig in der Tradition der Feudalherrschaft als Friedensapostel, ein “Ozean der Weisheit”, der ausschließlich Banalitäten produziert.

Trotzdem schießt Goldner schließlich in seiner Kritik des Dalai Lama und des Buddhismus über das Ziel hinaus: Es ist zwar unzweifelhaft so, dass ein gläubiger Buddhist der partiellen Idiotie geziehen werden kann, denn es bedarf eines schizophrenen Zwiedenkens in Orwellschem Sinne, all den religiösen Blödsinn ernst zu nehmen. Andererseit sind seine Angriffe ad hominem schlicht unzulässig: Wer Buddhist ist, kann immer noch ein großer Künstler, netter Mensch sein, etwas, das Goldner offenbar nicht für möglich hält. So wird jeder, der mit esoterisch-buddhistischen Gedankengut sympathisiert mit mehr oder weniger Häme bedacht: Ob dies nun Musiker sind (von Pavarotti über Hubert von Goisern bis Phil Glass) oder Schauspieler oder Regisseure – allen wird implizit oder explizit jegliche Könnerschaft abgesprochen. Dies ist nicht nur an sich ärgerlich, sondern auch dem Anliegen (das ich durchaus unterstütze) abträglich.

Und schließlich noch ein mich zusätzlich verunsichernder Passus: Goldner schreibt auf S. 558 über die Kalachakra-Tantra-Zeremonie 2002 in Graz, das es im hiefür “eigens neuerrichteten Betonkasten auf dem Grazer Messegelände” stattgefunden habe. Hier wird ganz offenbar unterstellt, dass die Errichtung der Halle (sie ist wirklich keine architektonische Meisterleistung) und der Auftritt des Dalai Lama in direktem Zusammenhang stünden. Das ist nun einfach Unsinn: Die Halle wurde 1998 geplant und vom Stadtrat abgesegnet, dass die erste Großveranstaltung diese Zeremonie sein würde, dürfte Zufall gewesen sein: Keinesfalls aber wurde sie deshalb errichtet. Graz hatte schlicht keine Veranstaltungshalle, man war immer auf das nichtüberdachte Fußballstadion angewiesen, weshalb eine solche Halle schon länger ein Desiderat der Stadtregierung war.

Ich glaube, dass diese Fehlinformation in der Haltung Goldners begründet ist, alles und jedes mit dem Buddhismus (oder anderen esoterischem Firlefanz) in Zusammenhang Stehende in Bausch und Bogen verurteilen zu wollen – zu müssen. Dies ist so unnötig wie kontraproduktiv: Die nackten Tatsachen sind ausreichend, wenngleich ich Goldners Verärgerung über eine kritiklose, gleichgeschaltete Presse nachvollziehen kann. Trotz allem ist dieses Buch wert, gelesen zu werden: Es bildet einen wohltuenden Kontrapunkt zu der hymnischen Verehrungsliteratur, die man in diesem Bereich ansonsten antrifft. Und es ist meines Wissens das einzige, das sich dieses Themas annimmt. Denn von den vieldiskutierten Bücher der Trimondis (Roettgen, Roetggen) ist abzuraten: Diese setzen das esoterische Brimborium des Buddhismus (u. a. eine geplante Weltherrschaft, die sich astrologisch sogar berechnen lässt) als wahr voraus. Es ist eine religionsinterne Kritik von ehemaligen, nun enttäuschten Anhängern des Dalai Lama, eine “Elchkritik”.


*) Wieweit dieser Glaube tatsächlich reicht, ist – wie häufig in solchen Fällen – unklar: Das Staatsorakel mag ein mehr oder weniger willfähriges Werkzeug sein und dadurch jeder Kritik entzogen; als jedoch der Dalai Lama an einer Darmentzündung erkrankte, hat er nicht auf den ansonsten hoch im Kurs stehenden heiligen Urin seiner selbst zurückgegriffen, sondern sich in ein westliches Krankenhaus bringen und sich mit durchaus nicht magischen Antibiotika behandeln lassen. Honi soit, qui …

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