Italo Calvino: Marcovaldo oder Die Jahreszeiten in der Stadt [Marcovaldo ovvero le stagioni in città]

Picaro sein zu müssen in der Literatur des 20. oder 21. Jahrhunderts, ist kein einfaches Schicksal. Till Eulenspiegel konnte seine Spitzbübereien noch ungehindert planen und ungestraft ausführen. (Wenn er auch letzteres vor allem seinen flinken Füssen verdankte.) Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg aber darf sich der Schelm nicht mehr auf Till berufen, und er kann noch von Glück reden, wenn es dann ‘nur’ so ist, dass er seine Rolle gar nicht mehr im Roman ausüben darf, sondern wenn der auktoriale Erzähler seine Rolle übernimmt – wie in der kürzlich hier besprochenen Mantel-und-Degenversion von Péter Esterházy.

Auch Marcovaldo ist ein Schelm, aber eben einer des 20. Jahrhunderts. Er schlägt sich und seine grosse Familie, seine zänkische Frau und vier oder fünf Batzen unterschiedlichen Alters, mehr schlecht als recht durch, verdient ein wenig Geld als Hilfsarbeiter in einer norditalienischen Grossstadt, die Mailand gleicht wie ein Zwilling sich selber. Oh, Pläne hätte er durchaus noch, selbst auszuführen traut er sich diese noch. Aber irgendwie geht bei ihm der Schuss immer nach hinten los. (Bei Sylke Bambilkes Schelm des 21. Jahrhunderts geht der Schuss ebenfalls immer nach hinten los – aber der traut sich schon kaum mehr, Pläne zu machen oder gar in Ausführung zu bringen, und erwartet mehr oder minder passiv die Schicksalsschläge, die ihn zum Schluss sogar dazu zwingen, mit Frau und Kind wieder bei Mutti unterzukriechen. So passiv, so reduziert ist Marcovaldo noch nicht.)

Auch Marcovaldo kriegt übrigens ein Kaninchen in seine Finger. Allerdings will er dieses nicht schlachten und essen (dafür ist es zu mager), sondern etwas Geld verdienen, indem er es weiterverkauft. Dumm nur, dass das Karnickel einem Versuchslabor entlaufen und hochgradig verseucht ist. Anstatt also Geld zu verdienen, müssen Marcovaldo und seine Famlie noch welches in die Hand nehmen: Auf Grund ihres Kontakts mit dem Kaninchen werden sie für ein paar Tage hospitalisiert – natürlich auf ihre Kosten. Wenn Marcovaldo vom Fenster seiner Dachwohnung aus den Sternenhimmel sehen will, guckt er statt dessen an die Neon-Leuchtreklame einer grossen Firma. Und wenn er (bzw. sein Sohn) durch gezielte Würfe mit der Steinschleuder diese Reklame immer wieder ausser Gefecht setzt, dann ist das nicht – wie es das bei Till Eulenspiegel wäre – ein Sieg über den übermächtig grossen Gegner. Zwar ist diese ewig kaputt gehende Reklame der letzte Nagel am Sarg der grossen Firma, sie geht Konkurs. Aber die Mentalität des 20. Jahrhunderts rächt sich an ihrem Schelm. Till Eulenspiegel verübte seine Streiche noch aus reinen und puren Motiven – reinem Egoismus und purer Egozentrik nämlich, d.h., aus Spass an der eigenen Freud’. Marcovaldos Sohn kriegt für seinen Streich einen kleinen Zustupf aus der Kasse des grössten Konkurrenten jener Firma. Und so kommt es, wie es kommen muss: Einmal jene Firma durch Konkurs beseitigt, können sich die Marcovaldos nicht lange am Sternenhimmel erfreuen – die siegreiche Firma setzt eine noch grössere und noch hellere aufs Dach des Nachbarhauses.

Italo Calvinos Marcovaldo bewegt sich in der Bandbreite zwischen gerade erst stattgehabtem Neorealismus und nun in Europa aufkommendem magischen Realismus. Marcovaldo ist eine Art Sammlung von Kurzgeschichten, die je nachdem eher auf die eine oder die andere Seite kippen können. Das Original erschien 1963, vollständig übersetzt dann auf Deutsch 1967, gelesen habe ich die Texte in der Neuausgabe dieser Übersetzung mit 22 farbigen und zahlreichen Schwarzweiss-Illustrationen von Doro Petersen, aus dem Italienischen von Nino Erné, Heinz Riedt und Caesar Rymarowicz (Edition Büchergilde), Frankfurt am Main, 2015.

Lektüre, die als luftig-lockerer Spass daherkommt, die man aber zum Schluss dennoch etwas nachdenklich bei Seite legt.

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