Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen III.2

Ich vermute, dass die Ausgabe der Aesthetik, die ich mir vor einiger Zeit antiquarisch besorgt habe, und die als vollständige Ausgabe angepriesen wurde, in Tat und Wahrheit irgendwann einmal (vielleicht schon vor meinem Antiquar) aus zwei verschiedenen Ausgaben zusammengesetzt worden ist. “Verschieden” in dem Sinn, dass zwei verschiedene Besitzer ihre Ausgabe unterschiedlich zusammenbinden haben lassen. Nicht nur ist ab Band III.2 jeder Band signifikant kleiner und plötzlich mit römischer statt arabischer Nummerierung versehen: Ich finde im Band III.2, der auf S. 173 beginnt, tatsächlich die vom andern Besitzer bereits in Band 3.1 eingebundenen Teile zur Baukunst noch einmal vor. Nun, lieber doppelt als gar nicht; und ich habe ja selber das fehlende Register-Bändchen mit nochmals einer andern Bindung hinzugekauft – so, dass der eventuelle Nachbesitzer dann über eine wirklich vollständige, wenn auch aus 3 verschiedenen Serien zusammengesetzte Ausgabe verfügt. Aber genug der irrelevanten bibliophilen Vorreden.

Mich beschäftigt hier also nur noch die Hälfte von III.2, das Zweite Heft: Die Bildnerkunst, den Zweiten Abschnitt des Dritten Theils bildend: Die Künste. Nach Gedanken zum Material (Vischer zieht Material mit möglichst wenig Eigenkolorit vor, aber um Himmels Willen nicht Gips, weil der matt und tot wirkt – am liebsten Bronze oder dann weisser Marmor), zur Grösse einer Statue (am liebsten kolossal, überlebensgross – v.a., wenn Götter und grosse Männer dargestellt werden sollen – Kleinkunst, Tischschmuck, lehnt er ab), zum Inhalt (Menschen / Götter lieber als Tiere, diese nur, wenn sie etwas Kolossal-Gewaltiges an sich haben; Dinge nur im Relief, nicht bei einer freistehenden Plastik), und widmet sich dann praktisch jedem einzelnen Körperteil, um dessen Gestaltung zu diskutieren. Er bleibt bei seinen Beispielen immer im Bereich der antik-griechischen Plastik, und – auch wenn er ihm in Details schon mal widerspricht – hält sich in seiner Theorie ganz an Winckelmann (den er systematisch Winkelmann schreibt). Nirgends bisher hat sich Vischers Abhängigkeit von der Weimarer Kunstauffassung so stark gezeigt, wie hier. (Dass im antiken Griechenland die Statuen gar nicht so schön weiss waren, wie wir sie heute finden, sondern bunt bemalt, war ihm zwar im Ansatz bekannt – er will es aber nicht so ganz wahr haben, und stellt sich nur Schattierungen oder gewisse kleine Linien vor.)

Im geschichtlichen Teil, den er – wie in den Untersuchungen zur Architektur – am Schluss anhängt, kennt Vischer zwar eine orientalische Bildhauerei (zu der er aber nicht viel sagen kann), geht dann über zur griechischen (der er die römische in Klammern anhängt), das Mittelalter ist ihm in der Gestaltung der Figuren zu steif, die Renaissance schon wieder zu überladen. Erst in der Moderne (d.i., in seiner eigenen Zeit) findet er wieder Ansätze, die ihm gefallen und (seiner Meinung nach) wieder dem klassischen Ideal entsprechen. Man spricht heute von jener Epoche als vom Klassizismus und würde Vischer nicht ganz zustimmen. Wie bei der Architektur auch hier ein Anhang zur verzierenden Bildnerkunst, d.i., zum Kunsthandwerk und – merkwürdigerweise hier inbegriffen – zur Gymnastik. (Die, nach griechischem Vorbild, eigentlich ja nackig zu vollziehen wäre. Vischer weist darauf hin, aber so ganz traut sich er dann doch nicht, diesen Wunsch auch für die Gegenwart zu äussern. Wie weit da politische Sympathie zum gerade – 1852 – verstorbenen Turnvater Jahn hervor guckt, bleibe dahingestellt.)

Alles in allem, auch wenn Schiller, Schelling und Hegel immer mal wieder zitiert werden, eine wenigstens sprachlich von Hegel unabhängige Darstellung, aber wenn Vischers Ästhetik nur aus diesem Teil bestünde, würde ich dem Interessierten doch ans Herz legen, Winckelmann im Original zu lesen.

1 Reply to “Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen III.2”

  1. Etwas Ungriechischeres (im antiken Sinne) als den bigotten Jahn kann es gar nicht geben. Dessen Turnen knüpft mitnichten ans Gymnasion an, sondern eher an die mittelalterliche Inquisition. Bei den Hellenen gab es nämlich durchaus keine „Barren, Pferd, Ringe“ genannten Foltergeräte. Vielleicht sollte man sich in meinem Alter über Kalamitäten seiner Schulzeit nicht mehr enragieren, aber wie sich so ein groteskes Instrumentarium überhaupt durchsetzen konnte und dann auch noch wehrlosen Schülern aufgezwungen wird, ob man damit zu tun haben will oder nicht – für Interessenten gibt ja Turnvereine – kann mich immer noch auf die Palme bringen.

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