Bertrand Russell: Einführung in die mathematische Philosophie

Russells Einführung stammt aus dem Jahre 1919. Geschrieben wurde sie, wenn ich mich recht erinnere, als Russell wegen pazifistischer Aktivitäten im Gefängnis sass. Russell schrieb sie, ohne wirklich Zugriff auf Sekundärliteratur zu haben. So ist dieses Buch ohne viele Fussnoten und Querverweise entstanden. Russell erklärt hier die Grundlagen der modernen Logik, einer Logik, die damals so modern war, dass sich Russell immer wieder darüber beklagt, dass die Mathematiker die logisch-formelle Grundlegung ihrer Wissenschaft nicht kennen oder nicht akzeptieren – und dass die “Logiker” ihrerseits die Mathematik nicht kennten, weil sie Griechisch lernen mussten. Weit zurück scheint diese Zeit zu sein, und doch sind es erst 100 Jahre … Aber schon vor knapp 50 Jahren kam ein Student der Philosophie praktisch nicht mehr durchs Studium, wenn er nicht zumindest einen Grundkurs in symbolischer Logik absolviert hatte. Jedenfalls hierzulande.

Russells Buch ist tatsächlich eine Einführung. Ohne gross auf logisch-symbolische Notation einzugehen, und immer mit der Hilfe alltäglicher Beispiele, wo möglich, führt er in die Grundlagen der Logik und seiner Typentheorie ein. Sein votragsähnlicher Stil wurde auch im Deutschen gut beibehalten. Dadurch wird auch die Freude, die Faszination Russells immer spürbar. Russell ist sich auch nicht zu schade, auf Punkte hinzuweisen, wo er – seiner Meinung nach – in früheren Publikationen (v.a. den “Principia mathematica”) geirrt hat.

Ob Russells Theorien auch heute noch allgemein akzeptiert sind, entzieht sich im Detail meiner Kenntnis. Als allgemeine Einführung für erstsemestrige Philosophiestundenten und/oder interessierte Laien taugt das Buch meiner Ansicht nach immer noch ausgezeichnet.

(Eine Fussnote hat mich besonders berührt: Beim Problem der Tautologie weist Russell darauf hin, dass ihn sein Schüler Ludwig Wittgenstein auf die Wichtigkeit der Problematik aufmerksam gemacht habe. Wittgenstein hätte sich wohl dagegen verwahrt, als “Schüler” Russells angesprochen zu werden. Zu Recht: Als die beiden aufeinander stiessen, war Wittgensteins Gedankengebäude rund um den “Tractatus logico-philosophicus” praktisch schon fixfertig. Aber nicht darum geht es mir, sondern um den Nachsatz: Er, Russell, wisse nicht einmal, ob Wittgenstein überhaupt noch lebe. Eine hübsche, kleine zwischenmenschliche Note mitten in einem Text zur Logik und Mathematik …)

PS. Da ich gerade im Vorwort meiner “Waverley”-Ausgabe geschmökert habe, ist mir klar geworden, warum Russell und Whitehead so grossen Wert auf die Analyse des Satzes

“Scott = Autor von Waverley”

legen. Ich wusste nämlich gar nicht, dass Scott jahrelang seine Autorschaft am ursprünglich anonym erschienenen “Waverley” geleugnet hat. Damit ist “Scott = Autor von Waverley” mehr als ein Pleonasmus, er bringt tatsächlich zuvor nicht bekannte Information zum Vorschein. (Und zeigt, dass selbst abstrakte Logik in historisch kontingenten Fakten Nebenwurzeln hat.  ;) )