Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen III.IV

Musik ist das Thema des Vierten Hefts von Vischers Aesthetik. Das hat mich ein wenig überrascht, ist doch die Musik als abstrakteste, mathematischste und flüchtigste aller Künste sonst am Ende einer Reihung der Künste angesiedelt. Für Vischer aber gehört die Musik nach der Malerei, der Landschaftsmalerei vor allem, weil die Musik ähnliche Reaktionen im Rezipierenden auslöse wie die Malerei. Auch an die Architektur ist die Musik anzuschliessen – Vischer zitiert sogar Schopenhauer (den er sonst mit Schweigen übergeht!) mit seinem Diktum: Architektur ist gefrorene Musik.

Dabei wird man den Eindruck nicht los, dass die Musik diejenige der Künste ist, über die Vischer am wenigsten weiss, dieses Nicht-Wissen aber hinter einem Schwall von Worten verdeckt. Noch nie waren die einzelnen Paragraphen so lang. (Vischers Werk enthält statt der Kapitel Paragraphen – Heft 4 z.B. umfasst die §§ 746-833 – und das Inhaltsverzeichnis zu Beginn jeden Hefts gibt Seiten wie Paragraphen an.) Zum ersten Mal muss Vischer, wenn er auf ein frühere Stelle in seiner Aesthetik hinweisen will, auf Seiten referenzieren und nicht auf Paragraphen. Noch nie waren seine Paragraphen so lang, habe ich gesagt, und noch nie waren sie derart inhaltsleer.

Über fast 100 Seiten diskutiert Vischer das Verhältnis der Intervalle – absolut und untereinander. Er redet aber darüber weder so richtig als Physiker noch so richtig als Musiktheoretiker. Dem folgen Die Zweige der Musik. Vocalmusik, Instrumentalmusik, dann Vocal⸗ und Instrumentalmusik in Einheit und Wechselwirkung. Es erstaunt wohl bei einem Literaturwissenschafter, also einem Menschen des Worts, nicht, wenn die Oper für Vischer sozusagen den Kulminationspunkt der Musik darstellt. Der übliche Anhang ist dem Tanz gewidmet und umfasst sowohl Ballett wie Gesellschaftstanz.

Vischers Auslassung über die Musik sind nur schon deswegen ermüdend, weil er – mehr noch als in Architektur und Bildender Kunst – eurozentrisch denkt, und zwar unhinterfragt eurozentrisch denkt. In keiner Sekunde kommt es ihm in den Sinn, dass es auch andere Tonleitern geben könnte als die auf der Oktave beruhende europäische. Die alten griechischen und die mittelalterlichen werden als Formen der heute in Europa geltenden Tonleitern behandelt – andere kennt Vischer gar nicht. Vischer orientiert sich bedingungslos und unhinterfragt an der Wiener Klassik. Wenn er Beispiele braucht, ist es zu vielleicht 80% Mozart, und da wieder vor allem dessen Opern, die er zitiert. Dann folgt Beethoven, der für Vischer den zweiten Kulminationspunkt der Wiener Klassik darstellt – und somit natürlich den zweiten Höhepunkt der Musikgeschichte. Haydn ist die Nummer 3. Praktisch nur im geschichtlichen Teil des vierten Hefts kommen die, die er offenbar als grosse Vorläufer der Wiener Klassik betrachtet: Bach und Händel. Die haben – gemäss unserm Autor – vor allem in der geistlichen Musik (Oratorien) hervorgestochen. Es werden auch Italiener und Franzosen erwähnt, aber im Grossen und Ganzen kann man sagen, dass Vischers Musik(geschichte) nicht nur eurozentriert ist – sie ist praktisch nur auf Deutschland bezogen. Die romantische Musik wird kaum erwähnt (und wenn, dann mit – Schubert!). Ein oder zwei Mal setzt sich Vischer auch mit Richard Wagner auseinander – weiss aber offenbar nicht so richtig, soll er ihn nun loben oder tadeln.

Alles in allem ein wenig befriedigender Band. Natürlich ist Vischer kein Musiktheoretiker oder -wissenschafter wie es Burkholder und seine Vorgänger waren (die sich in History of Western Music ja auch nur auf den westlichen Raum beschränkt haben). Aber ein bisschen mehr Konsistenz hätte ich von dieser Sauce doch erwartet.

3 Replies to “Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen III.IV”

  1. Eine schwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der Musik ist nur im ersten, allgemeinen Teil (§§ 746–766) und in dem Anhange von der Tanzkunst (§ 833) von mir ausgeführt. Ein Freund, der philosophische Bildung mit tieferer Kenntnis der Musik vereinigt, Dr. Carl Köstlin, Professor in Tübingen, auf theologischem Gebiete durch historisch kritische Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings durch philosophische Vorträge auf der genannten Universität mit Beifall und Erfolg tätig, hat die übrigen Teile übernommen und im Anfange seiner Arbeit einiges freundlich überlassene Material von einem in die physikalischen Grundlagen und das technische System der Musik noch spezieller Eingeweihten, der nicht genannt sein will, benützt.

    Fr. Th. Vischer: Aesthetik VI. München, 21923. S. X f.

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