Robert W. Weisberg: Kreativität und Begabung

Dieses Buch erschien zu einer Zeit (1989), als Seminare zur Steigerung der Kreativität hoch im Kurs standen: Jedes aquarellierte Wiesenblümchen aus dem Volkshochschulkurs, jedes Battiktüchlein war ein Hinweis auf überbordende Kreativität – wenn nicht gar Geniehaftigkeit der Erzeuger, man gedachte sich dem Künstlertum über alternatives, nichtrationales Denken anzunähern und sah sich bei jedem Brainstorming in seiner Besonderheit bestätigt, weil man in diesen Gruppen bei der Produktion unsinniger Ideen immer weit voran war.

Dieses Buch versteht sich als Antithese zu dem weit verbreiteten, romantischen Kreativitätsbegriff, der durch Genieblitze und höhere Eingebungen charakterisiert wird, indem es viele dieser gängigen Vorstellungen ad absurdum führt und die außergewöhnlichen Leistungen von Künstlern wie auch Wissenschaftlern auf recht pragmatische Weise erklärt. Weisberg geht vom Menschen als problemlösendem Wesen aus und zeigt, dass – da es keine absolut identen Situationen gibt – ein entsprechend kreatives Verhalten in allen Lebenslagen eine schlichte Notwendigkeit ist. So fließt aber auch bei der Lösung neuer Problemstellungen immer das kumulierte Wissen der Person in die Lösungsstrategie ein, sogenannte Geistesblitze oder Aha-Erlebnisse sind zumeist analysierbar und zeugen von einer Schritt-für-Schritt-Lösung, die sich nur post festum als eine Erleuchtung darstellt. Und Weisberg betont die Wichtigkeit der Fachkompetenz, einer gediegenen Ausbildung: Alle “Genies” vollbrachten ihre Leistungen (in künstlerischer oder wissenschaftlicher Hinsicht) erst, nachdem sie sich intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt hatten und eine entsprechende Ausbildung durchlaufen hatten (er analysiert ausführlich die Entdeckung der Doppelhelix durch Crick/Watson als auch der Evolutionstheorie durch Darwin, um deren “normale” Entstehungsgeschichte aufzuzeigen).

In zahlreichen Untersuchungen lässt sich nirgendwo ein Anhaltspunkt für die weit verbreiteten Meinungen über die Effektivität des “divergenten” (a-rationalen) Denkens oder spontan auftretender Geistesblitze durch “neue Sicht der Dinge” nachweisen – im Gegenteil: In allen Bereichen erweist sich das simple Fachwissen (wenig überraschend) als das effizienteste Mittel. (Ein ganzes Kapitel widmet er dem Nachweis der Unsinnigkeit des Brainstormings: Bei aller Skepsis gegenüber dieser Methode fand ich den hier betriebenen Aufwand unangemessen.) Neben diesen Laboruntersuchungen nimmt sich Weisberg aber auch der (oft autobiographischen) Schilderungen von Künstlern und Wissenschaftlern über ihren eigenen Schaffensprozess an. Von Coleridge wird etwa die “traumhafte” Entstehung eines seiner Gedichte erzählt (in bereits vollendeter Form), von Kekulé, dass er im Halbschlaf die Struktur der Benzolringe geschaut habe. Bei genauerer Prüfung bleibt wenig Wundersames: Von Coleridges Gedicht fand man – durchaus nicht vollendete – Skizzen aus der Zeit vor dem besagten Entschlummern, bei Kekulé scheint es sich um eine ganzen simplen Nachdenkprozess gehandelt zu haben. Überhaupt kann man bei Künstlern (Malern, Musikern und Schriftstellern) so gut wie immer eine Werk-Ätiologie rekonstruieren: Es gibt zahlreiche Vorarbeiten, Entwürfe, Einflüsse anderer Künstler – aber nirgendwo den erleuchteten Schaffenden, der da von der Muse geküsst ohne Schwangerschaft mit seinem Werk niederkommt. Der bloße Kuss der Muse scheint wenig erfolgversprechend, die Beziehung zur selben dürfte vielmehr einer von zahlreichen Widrigkeiten begleiteten langen Ehe näher kommen als einem schöpferischen One-night-stand.

Warum aber gelingen dem einen großartige Werke während der Normalbürger – trotz Anspruches – im Aquarellkurs für Fortgeschrittene versauert? Es scheint weniger eine spezifisch geniehafte Eigenschaft dafür ausschlaggebend zu sein als vielmehr Konsequenz, Geduld und ein nicht unerhebliches Maß Glück. Dass die Anlagen eine Rolle spielen wird dabei nicht bezweifelt: So wenig wie aus jedem Menschen ein Wimbledonsieger werden kann (auch wenn jeder das Tennisspiel in beschränkten Umfang zu erlernen in der Lage ist), genauso wenig wird aus den meisten ein berühmter Physiker oder Schriftsteller. Wobei das künstlerische Genie noch besonderen Fährlichkeiten ausgesetzt ist: Denn nicht wenige, die zu ihrer Zeit hochgeachtet und bewundert wurden, haben ihren Status als Genie im Laufe der Zeit eingebüßt (und vice versa). Genie ist offenbar nichts wirklich Objektives und auch nichts Ewiges – und wir scheinen tatsächlich alle an dieser Geniehaftigkeit – in unterschiedlichem Ausmaße – teilzuhaben: Die Fähigkeit des Problemlösens ist für die Art überlebenswichtig. Das vorgebliche Genie macht nicht viel anderes als jeder ander Mensch: Es löst Probleme. Und es tut dies vor allem dadurch, dass es sich des geduldig erworbenen Fachwissens bedient und erwartet mitnichten in Yoga-Position den göttlichen Funken. Den Kreativitätsträumern darf also zu einer gediegenen Ausbildung geraten werden (Malen erlernt man, ebenso Komponieren und auch Physik) und das Geld für die Ratgeberliteratur zu sparen. Außerdem: Tennisspielen kann auch auf bescheidenem Niveau großen Spaß machen – man sollte nur nicht erwarten, dass alle Welt einen dabei sehen will. Eine Einsicht, auf die man beispielsweise bei manchem Internetkünstler vergebens hofft (und wenn ich an manche Hobbyliteraten denke: Orthographisch richtiges Schreiben ist zwar für große Kunst nicht unabdingbar, allerdings sind mir keine Schriftsteller mit Rechtschreibschwächen bekannt. Auch hier gilt: Schreiben lernen – in jeder Hinsicht.)

Weisberg gelingt hier eine durchaus ansprechende Analyse und präsentiert den Kreativitätsaposteln – keineswegs überraschende – Fakten. Allerdings ist es sehr viel einfacher, ein wirres (divergentes) und irrationales Denken zu propagieren als die angehenden Genies zu schweißtreibender Arbeit aufzufordern. Manchmal aber scheint der Autor (wie beim erwähnten Brainstorming) über das Ziel hinauszuschießen: Obwohl natürlich dieses Verfahren paradigmatisch ist für die verklärte Vorstellung von Kreativität (es werden – nach Weisberg – zwar mehr, aber wesentlich weniger brauchbare Ideen dabei produziert).


Robert W. Weisberg: Kreativität und Begabung. Heidelberg: Spektrum 1989.

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