Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Ein eben emeritierter Universitätsprofessor stößt auf seinem Gang durch die Stadt auf das Zeltlager von Flüchtlingen in einem Park: Sie wollen “sichtbar werden”, die Öffentlichkeit aufmerksam machen. Für Richard wird diese Begegnung zu einem Initialerlebnis, er beginnt das Schicksal der Flüchtlingsgruppe zu verfolgen, sich zu informieren und wird immer stärker in deren Leben hineingezogen.

Die Flüchtlinge kommen zum Großteil aus Westafrika und wurden im Rahmen der lybischen Revolution von den Einheimischen vertrieben, in Boote Richtung Italien gesetzt. In einzelnen Gesprächen erfährt Richard die individuellen Lebensläufe, jeder eine Tragik für sich, ein Pilgern von Land zu Land, überall unerwünscht und mit wenig Aussicht, irgendwo zur Ruhe zu kommen. Auch nicht in Deutschland, denn für die ganze Gruppe ist (Dublin II*) Italien zuständig, jenes Land, in dem die Flüchtlinge erstmals ihren Fuß auf den Boden der EU gesetzt haben. Und so beginnt das unendliche Spiel: Nach Italien zurückgebracht machen sich die Betroffenen wieder nach Nordeuropa um Arbeit auf, um alsbald aufgegriffen und wieder nach Italien abtransportiert zu werden. Erst nach fünf Jahren hat das Spiel ein vorläufiges juristisches Ende, was aber die Situation aufgrund der Einstellungsbedingungen in den nördlichen Ländern keineswegs verbessert.

Richard wird bei seinem Engagement mit allen Vorurteilen, allen Klischees konfrontiert – und tatsächlich scheint auch ein nie ganz aufgeklärter Einbruch zu Lasten eines von ihm eingeladenen Asylwerbers zu gehen. Wobei selbst solche Straftaten angesichts der prekären Lage in einem anderen – verzweifelten – Licht erscheinen. Überall steht das Menschsein des Einzelnen einer undurchdringlichen Bürokratie gegenüber, Gesetzestexten, die nicht verstanden werden, Behörden, welche sich hinter diese Texten verschanzen und trotz der dort implementierten Ausnahmeregelungen diese nie oder fast nie zur Anwendung bringen. Es ist die Problematik jedweden Gesetzes, jeder Bürokratie: Dass der Mensch an sich unter den Bestimmungen zu verschwinden droht.

Erpenbeck spricht sich für das individuelle, persönliche Engagement aus, ein Engagement, das – wenn vervielfacht – möglicherweise den Grundstein für eine humanere Haltung der Gesellschaft legen könnte. Die Form der Darstellung halte ich allerdings für problematisch: Der Emeritus, Wohlstandsbürger, dem es weder an Geld noch Zeit gebricht, seine Hilfe anzubieten, scheint genau derjenige zu sein, der sich seine Humanität auch leisten kann, er entspricht dem Klischee des “Gutbürgers” in seiner Saturiertheit, der Flüchtlinge als wohltuende Abwechslung für ein ansonsten leerer werdendes Leben willkommen heißt, Flüchtlinge, die außerdem sein soziales Gewissen beruhigen. Es ist eine wahrlich akademische Sicht des Problems, die Erpenbeck anbietet, auch wenn ich ihren Aufruf zum individuellen Handeln, zur persönlichen Verantwortung für wichtig und richtig halte: Aber ich bin – mutatis mutandis – in einer ähnlich vorteilhaften Position und weiß, dass Humanität wenigstens in Teilen auch einer solchen Position geschuldet wird.

Sprachlich, literarisch hat mich das Buch ein wenig enttäuscht: Es ist sehr routiniert geschrieben, souverän, vermag aber kaum tiefer zu beeindrucken. Wobei das bei dem vorliegenden Thema natürlich ein Drahtseilakt ist: Eine subtilere Ausarbeitung von Schicksalen, psychologischer Verfasstheit droht allzu leicht in Sentimentalität und Effekthascherei abzugleiten. So bleibt ein leicht lesbares, mit Recht an die persönliche Verantwortung appellierendes Buch, das einen etwas schalen Eindruck hinterlässt: Eine leicht abgehobene Sichtweise, ohne die Schwierigkeiten von und mit Flüchtlingen aus divergierenden Blickwinkeln darzustellen.


Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. München: Knaus 2015.


*) Das ist jenes wunderbare Abkommen, dass vor allem von den nord- und zentraleuropäischen Ländern forciert wurde und dessen Konsequenzen den betroffenen südlichen Staaten erst später – im Grunde erst durch den Exodus aus Syrien klar wurde. Für Österreich hat es bedeutet, dass es durch seine Lage niemals auch nur einen Flüchtling hätte aufnehmen müssen (es sei denn, dieser ließe sich wie der Baron Münchhausen via Kanonenkugel transportieren, eine Kanonenkugel, die schon beim Baron türkischen Ursprungs war).

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