Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Das Sterben des eigenen Vaters im Krankenhaus: Ein langsames Verdämmern, ein gelebtes Leben und auftauchende Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Geschehnisse, die dann im Buch beschrieben werden, die ein Leben bestimmen und prägen.

Walter wird im Frühjahr 1945 mit einigen anderen als SS-Soldat rekrutiert und zum Fronteinsatz nach Ungarn geschickt. Sie sind sich der Gefahren bewusst, denken nur daran, irgendwie zu überleben, den Irrsinn der letzten Monate zu überstehen. Fiete, Walters Freund, versucht aus dem Krankenhaus zu fliehen, wird entdeckt und zum Tode verurteilt. Und der SS-Ehrenkodex verlangt, dass die eigenen Kameraden (und also auch Walter) dieses Urteil vollstrecken (wobei eines der Gewehre der fünf Schützen Platzpatronen enthält, damit jeder für sich beanspruchen kann, den tödlichen Schuss nicht abgegeben zu haben). Alle Versuche, diesen Wahnsinn noch zu verhindern, scheitern an den seltsamen Moral- und Ehrbegriffen der SS-Eliteeinheit und das Ungeheuerliche nimmt seinen Lauf.

Ein solcher Stoff (wobei es sich hier tatsächlich um die – natürlich literarisch aufbereitete – Biographie seines Vaters handeln dürfte, da auch in den anderen, stark autobiographischen Romanen auf dieses Ereignis mehrfach Bezug genommen wird) birgt die nicht unerhebliche Gefahr von sentimentalem Pathos und Gefühlsduselei. Dass man davon nichts spürt, sondern man nur das Unglaubliche des Kriegsalltages miterlebt, ist Rothmanns Sprache zu danken, einer Schreibweise, die äußerst präzis und unprätentiös, dadurch aber umso eindringlicher, von diesen Ereignissen berichtet. Er weiß, wo das Grauen keiner Verstärkung mehr bedarf, wo man abbrechen muss, um den Eindruck nicht zu zerstören, um die Authentizität zu wahren, er ist auch ein genauer Beobachter all jener Details, die das Bild erst wirklich werden lassen. Diese Gratwanderung zwischen Pathos oder metaphorischer Überfrachtung und konziser, eingängiger Schilderung ist eine hohe Kunst – und Rothmann beherrscht sie – vor allem in diesem Buch – perfekt.

Als am Ende des Buches sich der Sohn nochmal auf die Suche nach den Gräbern seiner Eltern macht, wird die Unsinnigkeit alles Leidens, aller willkürlich einander zugefügten Verletzungen spürbar, der Überlebende ist nun längst tot, hat sein einziges, kleines Leben unter dem Schatten dieser Ungeheuerlichkeit verbringen müssen. Der Sohn findet im Schneegestöber die Gräber nicht mehr und es bleibt ungewiss, ob er den Pachtvertrage für die Grabstätte noch einmal wird verlängern. Die Gräber aufzulassen besitzt eine befremdliche Endgültigkeit, die Erinnerung verliert ihren materiellen Haltepunkt, gewinnt aber neue Dauer durch dieses Buch. Das man lesen sollte!


Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015.

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