Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio διατριβή sive collatio / Gespräch oder Unterredung über den freien Willen; Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus / Erstes Buch der Unterredung Hyperaspistes gegen den Unfreien Willen Martin Luthers

Ob sich die paar Millionen Lutheraner dessen bewusst sind, dass sie nach Ansicht des Gründers ihrer Kirche dieser gar nicht freiwillig angehören? Sondern sie vielmehr ihr Gott dazu zwingt?

Eigentlich wollte sich Erasmus ja aus den Querelen, die Martin Luther mit seiner Reformation angezettelt hatte, heraushalten. Auch Erasmus war der Meinung, dass so einiges in der katholischen Kirche geändert und verbessert werden könnte. Aber er plädierte für vorsichtige Reformen, nicht dafür, dass man wie Luther das Kind mit dem Bade ausschüttete. Erasmus sah sehr wohl, dass – wie immer er sich zu Luther äussern würde – er nichts dabei gewinnen könne. Allerdings war die Situation unterdessen bereits so verfahren, dass auch ein Schweigen nicht mehr möglich war. Erasmus’ katholische Freunde drängten ihn zusehends, Stellung zu beziehen. Die Sache endete, wie es Erasmus befürchtet hatte: Er konnte es letztlich beiden Seiten nicht recht machen, und Luthers Invektiven gegen ihn blieben in den Ohren katholischer Würdenträger hängen. Seine Werke landeten nun plötzlich auf dem Index librorum purgandorum, dem Verzeichnis der Bücher, aus denen anstössige Stellen zu entfernen seien.

Dabei wollte sich Erasmus absichtlich auf einen Nebenschauplatz der reformatorischen Streitigkeiten beschränken – auf das Problem des freien Willens. Da war die Ausgangslage relativ einfach, und – wie Erasmus wohl hoffte – klar1). Im Konflikt zwischen dem freien Willen des Menschen und den Gott zugeschriebenen Attributen der Allmacht und des Allwissens entschied sich Luther für Allmacht und Allwissen Gottes und gegen die Möglichkeit eines freien Willen des Menschen. Er berief sich dabei auf ähnliche Aussagen Wyclifs. Diese Aussagen waren seinerzeit von einem Konzil abgeschmettert worden. Die offizielle Kirchenlehre, von der Scholastik mühsam erarbeitet, lautete dahingehend, dass das Allwissen Gottes zwar alles vorhersieht, aber nicht alles vorherbestimmt. Erasmus folgte dieser katholischen Lehre, indem er unzählige Bibelstellen aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament zitierte, und sich bei deren Interpretation auch immer rückversicherte, dass Origines und Hieronymus sie schon im Sinne eines freien menschlichen Willens interpretiert hätten.

Erasmus nannte seinen Beitrag eine διατριβή, das hiess, für ihn war es ein wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag zu einem Sachthema. Entsprechend hütete er sich, Luther oder seine Gefolgsleute namentlich anzugehen. Luther seinerseits kannte in seiner Antwort, De servo arbitrio (dt. Über den geknechteten Willen) keine Beisshemmung. Nicht nur, dass er Erasmus’ Willen einen halben nannte, er suggerierte auch, dass Erasmus selber wohl nur ein halbherziger Christ sei. Wenn überhaupt: Immer wieder vergleicht er Erasmus mit dem Spötter und Atheisten Lukian, nennt ihn – und zwar keineswegs im Scherz – ein Schweinchen aus der Herde Epikurs, d.i. einen Materialisten.

Erasmus war über diese Vorgehensweise Luthers höchst empört. Seine Replik, Hyperaspistes, zeigt das deutlich. Sie trägt denn auch über weite Strecken wenig Neues zur Sache bei. Immer wieder weist Erasmus darauf hin, wie zerstritten das Lager der Reformatoren unter sich ist, wie einheitlich dagegen die katholische Kirche argumentiert. (Zwinglis unterschiedliche Auffassungen zum freien Willen waren Erasmus allerdings offenbar unbekannt. Jedenfalls geht er nicht darauf ein, sondern auf die Unterschiede in Bezug auf die göttliche Präsenz im Abendmahl.) Des weiteren gibt Erasmus Luther deutlich zu verstehen, dass er ihn für einen ungebildeten Tölpel hält, dass De servo arbitrio, dort, wo zur Sache argumentiert wird, wohl gar nicht von ihm, Luther, selber stamme. (Erasmus hat – er nennt den Namen nicht – seinen ehemaligen, nun ins Lager der Reformatoren übergegangenen Freund Melanchthon im Verdacht, an Luthers Antwort mitgearbeitet zu haben.)

Ganz zum Schluss des Hyperaspistes aber präzisiert Erasmus noch seine Stellung zu einem zentralen Punkt der theologischen Debatte um den freien Willen. Luther ist konsequent: Da der Mensch nicht aus freiem Willen handelt, kann er auch nicht auf Grund seiner Taten sich den Himmel verdienen (bzw. das Anrecht auf den Himmel verlieren). Der Mensch befindet sich im Zustand der Erbsünde. Nur durch göttliche Gnade (sola gratia) und nur durch den Glauben (sola fide) kann nach Luther der Mensch sich das Himmelreich verdienen, nicht durch Werke. In seiner Antwort greift Erasmus auf Augustin zurück, und auf Thomas von Aquin. Wohl hat der Mensch einen freien Willen, und kann deshalb von sich aus Anstrengungen unternehmen, sich das Himmelreich zu verdienen, und diese Anstrengungen müssen auch unternommen werden, ansonsten ist der Mensch von vorneherein verloren. Aber den letzten Schubser gibt dann doch die göttliche Gnade. (Allerdings will Erasmus eine Aussage von Duns Scotus, es könnte doch ein Funke menschlichen Willens allein genügen, nicht von der Hand weisen – jedenfalls so lange nicht, bis die katholische Kirche sich dezidiert gegen eine solche Lehre ausgesprochen hätte. Mir persönlich ist allerdings keine solche Aussage von Duns Scotus bekannt.) Erasmus wehrt sich im Übrigen lautstark gegen den von Luther geäusserten Verdacht, er (Erasmus) könnte Pelagianer sein. Da hat wohl tatsächlich ein ehemaliger Vertrauter von Erasmus gepetzt: In einem Brief an Thomas Morus gibt Erasmus zu, dass er wohl Pelagianer wäre – d.h., daran glauben würde, dass der Mensch mit seinem freien Willen auch aus eigenem Willen, mit eigenem Tun, sich die Gnade und das Himmelreich verdienen könnte – wenn nicht die Autorität des Apostels Paulus hier im Wege stünde, der tatsächlich solches explizit in seinen Briefen verneint hat.

Erasmus war wohl der bessere Philosoph, der bessere Philologe und der bessere Theologe als sein Widerpart Luther. Kirchen- und damit weltgeschichtlich obsiegte Luther. (Ob das zum Besseren von Kirchen- und Weltgeschichte geschah, bleibe dahingestellt. Die katholische Kirche war bereits in einem – allerdings sehr langsam verlaufenden – Reformprozess begriffen, als der Hitzkopf Luther dreinschlug und diesen Prozess in der katholischen Kirche nicht nur stoppte, sondern sogar in sein Gegenteil verkehrte. Was ihm – nebenbei – von Erasmus im Hyperaspistes ebenfalls vorgeworfen wird.)

Philosophiegeschichtlich gesehen ist – spätestens seit Locke, Hume und Kant – die Frage nach dem freien Willen irrelevant geworden, weil die Frage nach Gott in der Philosophie irrelevant geworden ist. Das ist – aus der Sicht des 21. Jahrhunderts – die ganz grosse Tragik des Erasmus.

Die hier besprochenen Texte finden sich in Band 4 der Werkauswahl, die 2016 bei der WBG neu aufgelegt wurde.


1) Wenn Gott allmächtig und allwissend ist, muss er auch alle Taten des Menschen vorhersehen und vorherbestimmen können. Wenn dem Menschen ein freier Wille zugestanden wird, ist es mit der Allmacht und dem Allwissen vorbei. Das Problem hatte schon die Scholastiker beschäftigt.

(Zum Thema Erasmus vs. Luther und dessen Einbindung in einen grösseren Kontext verweise ich auf Kurt Flaschs Kampfplätze der Philosophie, das ich allerdings selber (noch) nicht gelesen habe.)

2 Replies to “Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio διατριβή sive collatio / Gespräch oder Unterredung über den freien Willen; Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus / Erstes Buch der Unterredung Hyperaspistes gegen den Unfreien Willen Martin Luthers”

  1. Dass Erasmus überhaupt ein Theologe sei, steht zur Diskussion! Dass er ein großes philologisches und auch pädagogisches Interesse hatte, ist unbestritten. Aber an die großen Fragen traut er sich nicht heran (bzw. sie bleiben ihm verschlossen), sondern schließt sich im Zweifelsfall einfach den Dogmen der Katholischen Kirche an oder läßt Fragen im Dunklen. Die Fragen an ihn sind: Wie ist das nun mit der Gnade? Wie ist das mit dem Schuldzusammenhang, in dem wir uns wiederfinden? Wie ist das mit dem Lebenszusammenhang, den wir seit unserer Geburt nicht selbst bestimmen können? Entspricht es denn dem christologischen Bekenntnisstand, ihn als Führer und Vorbild (als Exemplum, nicht aber als Sakrament) vorzustellen? Warum sollte dann Christus sterben? Aus pädagogischen Gründen? Wie ist das mit der Gewissheit des Glaubens? Wie ist das mit dem Bösen? Und schließlich: wie ist das mit der Selbstkonstitution des Menschen?
    Alles Fragen, denen Erasmus ausweicht, weil er nicht sieht, dass hier die Philologie aufhört und die Theologie beginnen würde.
    Etwas Ähnliches geschieht in dieser Besprechung wie in dem ärmlichen Flasch-Beitrag. Er ist empört über die Sprache Luthers und vergisst darüber das Argumentieren Luthers und auch sein eigenes. So bleibt eine wilde Empörung, die scheinbar die Sache erledigt. Aber damit ist sie nicht erledigt, nur erschwert.

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