Erasmus von Rotterdam: Colloquia familiaria / Vertraute Gespräche

Würde ich gefragt, welchen Text ich einem Einsteiger in Erasmus’ Werk empfehle, oder jemandem, der nur gerade Zeit und Lust hat, einen Text Erasmus’ zu lesen: Ich würde die Vertrauten Gespräche nennen. Hier haben wir Erasmus in höchster Qualität, zugleich haben wir hier den Erasmus in nuce: den Pädagogen, den Philosophen und Theologen, den Satiriker, den Friedensaktivisten.

Die Vertrauten Gespräche entsprangen dem Bedürfnis Erasmus’, seinen Schülern einen Text zur Hand zu geben, in dem sie für alle wichtigen Situationen in ihrem schülerischen Alltag korrekte lateinische Sätze vorfanden, die sie verwenden konnten. Schon bald baute Erasmus die Sätze in Gespräche um, rasch verloren diese Gespräche ihren sprachpädagogischen Charakter und wurden ein weiterer Bestandteil von Erasmus’ unermüdlicher Publikationstätigkeit. Dementsprechend hat Erasmus sein Leben lang an diesem Text gefeilt.

Das Gespräch als eine Form philosophischen Arbeitens hat eine ehrwürdige Tradition. Platon bediente sich seiner, später auch Cicero. Beide kannte und verehrte Erasmus. Aber auch in der Theologie bediente man sich oft der Gesprächsform, um Lehrinhalte zu vermitteln. Abaelard ist ein Beispiel dafür, oder Nikolaus von Kues. Zumindest den Kusaner hat Erasmus gekannt. Für die Gespräche mehr weltlichen Charakters fand Erasmus eine weitere Inspirationsquelle vor: Lukian von Samosata (z.B. mit seinen Totengesprächen), den der Rotterdamer zusammen mit seinem Freund Thomas Morus ins Lateinische übersetzt und veröffentlicht hat.

Neu bei Erasmus ist, dass er die Gesprächsform nicht nur für philosophische Untersuchungen  einsetzt, nicht nur für theologische Belehrung, nicht nur für weltliches Amüsement. Sondern, dass er ein ganzes Weltbild in verschiedensten Facetten ausbreitet. Das machte so vor ihm keiner, damit wurde Erasmus auch zum Brennpunkt der entstehenden europäischen Literatur. Montaignes Essais verdanken Erasmus (vor in  der inhaltlichen Bandbreite) viel; und der hier bereits in extenso behandelte Wieland wäre wohl ohne Erasmus auch nicht denkbar (wobei Erasmus und Wieland auch die Liebe zu Lukian teilten).

Band 6 der WBG-Auswahl enthält eine von Werner Welzig ausgesuchte und übersetzte Auswahl aus Erasmus’ Gesprächen. Ich will hier auch gar nicht auf einzelne davon eingehen – wir finden Texte aus der Frühform der Gespräche, die noch die lateinische Sprache lehren wollen, wir finden mit Reuchlins Himmelfahrt einen Nachruf Erasmus’ auf seinen Freund Reuchlin, wir finden Ratschläge an Huren und an Hausdrachen für ein besseres, Gott bzw. ihrem Gemahl gefälliges Leben, wir finden auch ein Gespräch, in dem Erasmus das Recht der Frau auf Bildung verficht, wir finden (satirische) Ratschläge an einen, der sich als Hochstapler durchs Leben schlagen will (zugleich Adelskritik vom Feinsten!), wir finden als Gipfel feinster ironischer Satire ein Fischessen, wo über theologische und kirchenkritische Dinge referiert wird, es werden darin die Kirchenväter ebenso zitiert wie die alten Philosophen, man könnte also wirklich meinen, zwei Humanisten beim Gedankenaustausch zuzuhören – nur, dass die beiden Streitenden ein Metzger und ein Fischhändler sind.

Wir finden ein Altmännergespräch, in dem sich vier alte Männer zufällig in einem Rasthaus am Wegrand wieder treffen, die in ihrer Jugend oft zusammen gekommen sind. Sie beschliessen, miteinander zu reisen und erzählen einander unterwegs ihr Leben, was Erasmus die Gelegenheit gibt, sehr verschiedene Formen, wie man sein Leben leben kann, vor dem Leser auszubreiten – er schildert das geruhsame Leben des eingezogenen Gelehrten ebenso wie das eines Hurenbocks. Doch zum Abschluss liefert Erasmus nicht etwa eine Moral von der Geschicht’, sondern den Dialog zweier Kutscher: Heinrich, der die Alten gefahren hat und Hugo, den er nun im nächsten Rasthaus trifft, machen sich gegenseitig über ihre Fahrgäste lustig. Heinrich verteidigt die seinen:

Meine Alten haben meinen Wagen bedeutend leichter gemacht, indem sie während der ganzen Fahrt unentwegt plapperten. Ich habe niemals bessere Leute gesehen.

Gefragt, was er damit meine, antwortet Heinrich:

Diese Alten aber sind anständig.

Wiederum gefragt, warum:

Weil ich durch sie auf dem Weg dreimal zu hervorragendem Bier gekommen bin.

Was will man mehr?

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