Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren

Der Titel ließ mich vermuten, dass es sich hier um eine der zahlreichen, mehr oder weniger gelungenen Polemiken handeln würde: Und damit um ein Buch, das – wenn man auch den meisten Aussagen uneingeschränkt zustimmen kann – dann doch ein wenig langweilt. Das allerdings war ein Irrtum: Hier handelt es sich um ein wirklich brilliantes, äußerst geistreiches Buch, das es verdient, unbedingt gelesen zu werden.

Schleichert geht zuerst den verschiedenen, großteils der Rhetorik (und nicht der Logik) entlehnten Argumentationsfiguren nach und zeigt (immer anhand von gut und geistreich gewählten Beispielen) die zahlreichen Fallstricke vermeintlich stringenter Strukturen auf: Argumente a majore, tu quoque, ignoratio elenchie, ad lapidem (dem Berkeley-Johnson-Streit entnommen) u. v. a. mehr werden analysiert und auf ihre Brauchbarkeit untersucht, wobei für jede Diskussion der Grundsatz des “negantem principia non est disputandum” gilt: Ein Grundsatz, der im übrigen häufig nicht gegeben ist (etwa in atheistisch-theologischen Auseinandersetzungen). Schon dieser theoretische Teil ist ausgezeichnet, mit viel Witz werden Haltungen entlarvt, die unter einem anderen Prinzip zu segeln vorgeben und auf ihre Intoleranz (die, einmal nachgewiesen, für die meisten dann doch ein nicht akzeptables Ärgernis darstellt) zurückverwiesen.

Wie aber dann angehen gegen Fanatiker, Fundamentalisten, mit denen man sich häufig nicht einmal auf Grundlegendes einigen kann und angesichts der Tatsache, dass man mit rationalen Argumenten ohnehin kaum einen Menschen von der Unsinnigkeit seiner Ansichten überzeugen kann? (Was man in der Werbewirtschaft – implizit – natürlich weiß: Man stelle sich (den höchst zweifelhaften) Erfolg vor, wenn in einem Werbespot über ein logisches Kalkül die Überlegenheit des Produktes x vor den Konkurrenzprodukten nachgewiesen würde.) Schleichert plädiert – wie bereits im Untertitel (Anleitung zum subversiven Denken) für eine solch subversive Strategie, die den Gegner ernst nimmt und etwa durch die Technik des Substituierens (als eine von vielen) die Untragbarkeit der Argumentation nachweist. Und so liest man auf S. 132:

“In dem 1986 erschienenen Lexikon „Deutschland in Geschichte und Gegenwart“ ist unter dem Stichwort „Rassenfrage“ folgendes zu lesen:

Die Judenvernichtung ist jene Einrichtung des 3. Reiches, die am meisten zur Kritik herausgefordert hat […]

Von nationalsozialistischer Seite verwies man dagegen auf den schweren Existenzkampf des deutschen Volkes gegen die Juden, und den allgemein verbreiteten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts. Doch gehen sowohl die Angriffe als auch z.T. die Verteidigung am Kern der Sache vorbei. Die Kritik macht es sich einfach, wenn sie sich unhistorisch auf den Boden des liberalen Staatsdenkens stellt. Das deutsche Volk dachte anders. Es nahm vor allem die Einheit von Volk und Rasse als vorgegeben hin. Der Staat verfolgte deshalb natürlicherweise Rassenverfall genauso wie andere Delikte; stellte doch ein Angriff auf die Reinheit der Rasse zugleich einen Angriff auf den Staat dar. Man verfolgte natürlicherweise mindere Rassen genauso wie andere Verbrecher. Die Verfolgung des Juden war dem deutschen Volk also eine Selbstverständlichkeit.

Es ist weiter natürlich, daß die Judenverfolgung sich der zeitgenössischen Mittel der Strafverfolgung bediente, und es muß auch darauf hingewiesen werden, daß ihr genau überliefertes Verfahren mit großer rassenbiologischer Gewissenhaftigkeit durchgeführt wurde.

Nicht die Judenverfolgung als solche, sondern die Auswüchse, zu denen sie unter den verschiedensten politischen und soziologischen Einflüssen führte, könnten vom historischen Standpunkt aus kritisiert werden […] Es geht um die Frage, ob die höherstehende Rasse das Recht oder sogar die Pflicht hat, Juden aus der staatlichen und menschlichen Gemeinschaft auszustoßen. So gesehen ist der Antisemitismus eine dauernd aktuelle Frage.’

Dem unbedarften Leser wird das ohne große Vorankündigung präsentiert – und noch während der Lektüre beginnen sich einem immer mehr die Nackenhaare zu sträuben: Schließlich erfährt man, dass der Text zwar fingiert ist, wobei aber nur einige Schlüsselwörter durch andere ersetzt wurden. Im Original liest sich das wie folgt:

‘Die Inquisition ist eine Einrichtung der katholischen Kirche, die am meisten zur Kritik herausgefordert hat und die das beliebteste Beispiel ist, wenn die katholische Kirche des Mittelalters gebrandmarkt werden soll.

Von katholischer Seite verweist man dagegen auf den schweren Existenzkampf der Kirche gegen die Ketzer, auf die allgemeine Grausamkeit der damaligen Justiz und die psychopathischen Erscheinungen des Mittelalters. Doch gehen sowohl die Angriffe als auch z.T. die Verteidigung am Kern der Sache vorbei. Die Kritik macht es sich einfach, wenn sie sich unhistorisch auf den Boden des liberalen Staatsdenkens stellt. Das Mittelalter dachte anders; es nahm vor allem die Einheit von Staat und Kirche als vorgegeben hin. Die Staatskirche verfolgte deshalb natürlicherweise die kirchlichen Delikte genauso wie die weltlichen; stellte doch ein Angriff auf die Religion zugleich einen Angriff auf den Staat dar. Die Verfolgung des Religionsdeliktes war dem Mittelalter also eine Selbstverständlichkeit.

Es ist weiter natürlich, daß die Inquisition sich der zeitgenössischen Mittel der Strafverfolgung bediente, und es muß auch darauf hingewiesen werden, daß ihr genau überliefertes Verfahren z.T. mit großem Ernst und juristischer Gewissenhaftigkeit durchgeführt wurde (so z. B. das gegen Hus).

Nicht die Inquisition als solche, sondern die Auswüchse, zu denen diese Institution unter den verschiedensten politischen und soziologischen Einflüssen führte, könnten vom historischen Standpunkt aus kritisiert werden […] Eine echte Beurteilung und vielleicht Verurteilung der Inquisition kann nicht auf historischer, sondern allein auf religionsphilosophischer Ebene erfolgen. Es geht um die Frage, ob die Kirche das Recht oder sogar die Pflicht hat, den irrenden Bruder um seiner Seligkeit und des Bestandes der hl. Kirche willen notfalls mit Gewalt zu überzeugen. Kann der “Rechtgläubige” weiter so viel göttliche Erkenntnis und Erleuchtung beanspruchen, daß er die Autorität erhält, den “hartnäckigen Ketzer” aus der kirchlichen und menschlichen Gemeinschaft auszustoßen? Fordert die Liebe zu dem irrenden Mitchristen Tolerierung oder Züchtigung? – So gesehen ist die Frage der Inquisition eine dauernd aktuelle Frage.’

Dieser echte Text ist 1959 erschienen und 1986 nochmals gedruckt worden. Er stammt von einem deutschen Professor.”

Diese Gegenüberstellung spricht für sich und bedarf im Grunde keiner weiteren Erläuterung. Schleichert hält mit Recht fest, dass “Verfolgung, Folter und Mord immer unmenschlich waren, Humanität und Inhumanität zeitlose Kategorien sind” (Hervorhebung durch Schleichert). Die Argumente bleiben bei der Substitution (die kirchliche Kreise nicht gern hören) gültig, es handelt sich um eine Substitution “salva inhumanitate”. Dies ist nur eines von vielen äußerst anregenden Beispielen, die der Autor für seine subversive Argumtentationstechnik vorbringt – und er betont immer wieder die Wichtigkeit, Aussagen (ob von Diktatoren in spe, von Ideologien oder Religionen) ernst zu nehmen: “Daß eine Weltanschauung irgendeinen heiligen Krieg gegen den Rest der Menschheit auf ihren Fahnen stehen hat, während sie in Wirklichkeit friedlich mit diesem Rest koexistiert, ist durchaus keine Seltenheit. Dieser Umstand läßt aber noch lange nicht mit Sicherheit darauf schließen, die betreffende Weltanschauung sei nunmehr harmlos und ungefährlich geworden. Das Phänomen des Fundamentalismus belehrt uns eines Besseren.” Ich selbst habe an anderer Stelle auf diese Gefahr hingewiesen: Auch wenn heilige Bücher in sich widersprüchlich sind (und das Christentum – zumindest in Europa – das AT gerne vergessen würde), ist die Tatsache, dass an verschiedenen Stellen zu Mord und Totschlag aufgerufen wird, keine unwichtige Fußnote. Denn oft entscheiden zufällige Umstände darüber, wann jemand diesen Aufruf wieder einmal ernst zu nehmen beschließt – und er hat dann das Recht der Orthodoxie in eben gleicher Weise auf seiner Seite wie seine friedlicheren Glaubensbrüder.

Als letztes empfiehlt Schleichert schließlich das “subversive Lachen”: Dieses allerdings kann erst einsetzen, wenn der Glaube oder die Ideologie an Einfluss und Macht verloren haben (über die Inquisition kann man sich heute lustig machen, im späten 15. Jahrhundert unter der Herrschaft von Ferdinand II. wäre einem dieses Lachen bald vergangen). Dass heute Protestanten und Katholiken fast einträchtig nebeneinander existieren und häufig voll des Lobes für den anderen sind, liegt einfach darin, dass man sich mit einem Streit um die Heiligkeit der Sakramente oder Transsubstantiationsfragen lächerlich machen würde. Niemand würde verstehen, dass man aufgrund liturgischer Auffassungsunterschiede den anderen vernichten solle: Genau das aber wurde vor einigen hundert Jahren beabsichtigt. Die Tatsache der Lächerlichkeit aber ist eine Frucht der Aufklärung (und nicht der plötzlich toleranten Kirchen). Zum Abschluss plädiert der Autor noch einmal für die – von unterschiedlichsten Seiten – in Verruf gekommen Aufklärung: “Die abendländische, kritische Vernunft ist kein völlig zufälliges Vorurteil [wofür er zuvor Argumente bringt]. Wer im Namen irgendeiner Ideologie gequält oder verbrannt werden soll, der wird die aufklärerische europäische Vernunft allen Alternativen vorziehen. Man mag das eine Frage des Geschmacks nennen. Aber es ist ein guter Geschmack.” Wozu auch das Lesen (und Genießen) dieses Buches gehört.


Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. München: Beck 2016.

4 Replies to “Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren”

  1. Das Christentum in Europa würde das Alte Testament gerne vergessen? Die Deutsche Bibelgesellschaft ist vielmehr bemüht, es schon den ganz kleinen Christen nahezubringen:

    “An dieser fröhlichen Kinderbibel werden Mädchen und Jungen lange Freude haben. Auf jeweils sechs Seiten präsentiert dieses fröhlich machende Buch die 20 schönsten und wichtigsten biblischen Geschichten für Kinder ab drei Jahren. Schöpfung, Sintflut und viele andere Erzählungen aus dem Alten Testament sowie zahlreiche Geschichten von Jesus bis hin zum Osterfest machen die Kinder mit einem Kernbestand biblischer Texte vertraut.”
    https://www.bibelonline.de/de/Alle-Produkte/Bibeln-fuer-Kinder-und-Jugendliche/Kinderbibeln/ab-3-Jahren/Meine-liebste-Bibel-4026

    Eine wunderschöne Geschichte, die von der Sintflut, und so fröhlich. Wie viele Mädchen und Jungen dabei wohl ersäuft wurden? Jedenfalls alle damals vorhandenen, da Noah “seine Söhne, sein Weib und seiner Söhne Weiber” auf die Arche mitnahm, demnach jedoch keine weiteren Nachfahren, obwohl er schon sechshundert Jahre alt war.

    Die abrahamitische Urreligion ihrerseits setzt noch eins drauf:

    “Das Jüdische Museum Berlin will sich verstärkt den Kindern widmen.
    Eine Jury habe den Entwurf des amerikanischen Architekturbüros Olson Kundig (Seattle) zum Bau eines Kindermuseums empfohlen. Die neue Abteilung soll innerhalb der Akademie des Jüdischen Museums an der Lindenstraße gegenüber dem Libeskind-Bau entstehen und sich an Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren richten. Die Eröffnung sei für 2019 geplant. Die Dauerausstellung soll um die biblische Erzählung der Arche Noah kreisen. Die Geschichte der Sintflut ist in Judentum, Christentum und Islam verankert. Der Entwurf stelle einen Bezug zu heutigen Themen, etwa der Rettung von Mensch und Tier, dem Verhältnis von Natur und Zivilisation und der Möglichkeit eines Neuanfangs her, begründete Museumsdirektor Peter Schäfer die Entscheidung für den Siegerentwurf.”

    Um zum ersten Ableger zurückzukehren, steht im aktuellen, unter der Ägide Kardinal Ratzingers erstellten, Katechismus der katholischen Kirche:

    “Das Alte Testament ist ein unaufgebbarer Teil der Heiligen Schrift. Seine Bücher sind von Gott inspiriert und behalten einen dauernden Wert, denn der Alte Bund ist nie widerrufen worden.
    […]
    Die Christen verehren das Alte Testament als wahres Wort Gottes. Den Gedanken, das Alte Testament aufzugeben, weil das Neue es hinfällig gemacht habe (Markionismus), wies die Kirche stets entschieden zurück.” (Nrn. 121/123)

    Und der evangelische Bischof von Berlin hat unlängst die Kanonizität des AT gegen einen Theologieprofessor, der neo-markionitische Tendenzen geäußert hatte, verteidigt:

    “Ich kann deshalb heute sagen: In der EKBO wird weder das Alte Testament noch das Institut für Kirche und Judentum abgeschafft!”
    http://www.reformiert-info.de/14291-0-8-14.html

    Übrigens haben in seiner Kirche neuerdings gleichgeschlechtliche Paare sich das Recht auf kirchliche Trauung erkämpft. Laut AT sollten sie hingerichtet werden. Aber das ist eben eine Frage der Interpretation, wie immer.

    1. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe: Selbstverständlich ist das AT ein “unaufgebbarer Teil” des Katholizismus (siehe auch http://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=5624), trotzdem wirst du weder einen orthodoxen Würdenträger und noch weniger einen der vielen weichgespülten, aktiven Christen finden, der in der Öffentlichkeit das Lob des lieben Gottes singt, der da die Vernichtung der Midianiter (nebst ausdrücklich erwünschter Tötung von Frauen und Kindern) anbefiehlt. In der Öffentlichkeitsarbeit wird derlei ebenso vermieden wie in den Sonntagspredigten: Pfählen, Verbrennen (in Ziegelöfen, wobei diese Stelle nach Auschwitz entschärft wurde) und ewige Martern sind – wenigstens im Westen – nicht wirklich mehrheitsfähig. Das AT ist so lange anstößig (und wird ausgeblendet), so lange sich unter den Christen keine Mehrheit zum Massenmord an Nicht- oder Andersgläubigen findet: Bei den Evangelikalen in den USA bin ich mir da nicht so sicher. – Zur Indoktrination der lieben Kinderchen noch ein besonderes Schmankerl: http://www.derkindergottesdienst.de/geschichten/01opferungisaaks.htm – ich würde ja gerne sagen, dass das ein Fake ist …

    1. Tippfehler beseitigt. Ja, es ist eine Neuauflage, die ein unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1997 ist (worauf ich eigentlich im Text hinweisen wollte). Denn das macht das Buch im Grunde noch hellsichtiger, es hat eine potentielle Form der Gewalt antizipiert (indem es die religiösen Texte ernst genommen hat), die erst nach 9/11 ins Bewusstsein der Menschen drang.

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