Svetlana A. Aleksievic: Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg

Nach dem ich die letzte Seite dieses Buches gelesen hatte war ich erleichtert: Diese fortgesetzten Ungeheuerlichkeiten waren nur schwer zur ertragen. Vielleicht auch deshalb, weil meine beiden Kinder genau so alt sind wie jene, von denen hier erzählt wird – besser: Die hier – 60 Jahre später – von ihrem Kindsein erzählen.

Auf 320 Seiten sind die Erinnerungen der – großteils weißrussischen – Menschen nachzulesen: Vom Einmarsch der Deutschen, von der Flucht, den Bombenangriffen, dem Hunger (einige erzählen von der Zeit im jahrlang eingeschlossenen Leningrad), der Angst, den unzähligen Toten. Dabei kommt so viel Ungeheuerliches zur Sprache, dass man manchmal wie benommen dies alles zur Kenntnis nimmt, wobei das Unfassbare oft darin besteht, dass es Kindern angetan wurde, die mit Staunen und Unglauben das Geschehene erleben, Geschehnisse, die sie für ihr ganzes weiteres Leben geprägt haben.

Ich erspare mir hier die Wiedergabe der Einzelheiten, sie zu lesen hat ohnehin schon einiges an Kraft und Durchhaltevermögen erfordert. Das Buch wäre eine wunderbare Pflichtlektüre für all jene, die Krieg für ein legitimes Mittel der Politik halten, die in ihm etwas Romantisch-Urtümliches erblicken, etwas Hehres, das abzulehnen für einen echten Mann unziemlich wäre (und ich erinnere mich mit Schaudern an meine Bundesheerzeit, in der mir Defätismus und fehlende patriotische Gesinnung vorgeworfen wurde, weil ich selbst die Übungsknallerei im Mischwald für ein selten dämliches Unternehmen hielt). Und während es für den saturierten Mitteleuropäer nur schwer vorstellbar ist, in einen Krieg verwickelt zu werden (die Kampfjets, die hier über Südostösterreich während des Jugoslawienkriegs kurzzeitig auftauchten, wurden bloß als etwas Exotisches bestaunt), ist genau das, was Alexijewitsch hier weitergibt, ein paar tausend Kilometer weiter Realität. Die man zur Kenntnis nimmt wie die alljährliche Wintergrippe – um dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. (Was man denn tun solle – höre ich fragen: Nun, man könnte wenigstens jene bei Wahlen abstrafen, die Waffenhandel als ein Geschäft betrachten, das nicht verwerflicher ist als der Verkauf von Hygieneartikel und die sich gerne martialischer Phrasen bedienen: Eine Vorstufe dessen, was da kommen könnte.)

Die Grausamkeit und Unmenschlichkeit laut und deutlich zu benennen (in der verqueren Hoffnung, bei diesem oder jenem doch das Nachdenken zu befördern) ist niemals überflüssig: Ob es sich um vergangene oder gegenwärtige Gräuel handelt. Dass das alles – auch geschichtlich – so weit weg nicht ist, weiß ich aus der eigenen Familie: Von meinem Vater, der als 14jähriger bei Kriegsende fast erschossen wurde, weil er sich eine abfällige Bemerkung über Hitler erlaubte, von meiner Mutter, die aus dieser Zeit ihre teilweise verkrüppelten Hände mitbrachte: Unterernährung. Und weil es so weit weg nicht ist, sollten wir die Abwesenheit von Krieg nicht als etwas Selbstverständliches betrachten. Und den großen Patrioten und Nationalisten unser Misstrauen aussprechen. (Eine moralinsaure Besprechung: Die vielleicht verständlich wird beim Lesen dieses Buches.)


Svetlana A. Aleksievic: Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg. Berlin: Aufbau 2005.

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