Walter Kempowski: Schöne Aussicht

Der zweite Band der “Deutschen Chronik” behandelt die Zwischenkriegszeit: Kärling hat vier Jahre in den Schützengräben überstanden und versucht nun, wieder im Zivilleben Fuß zu fassen. Er bemüht sich um Grethe, die allerdings einen Freund Kärlings ihm vorziehen würde: Aber dieser Freund will sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht binden. Und so kann der Stammhalter der Kempowskis eine Familie gründen, wobei vorläufig nur der Kindersegen auf sich warten lässt.

In Nebensätzen oder kurzen Parenthesen wird die Geschichte abgehandelt: Der Kapp-Putsch, die sich stetig erhöhenden Preise. Man erlebt die Preissteigerung als Leser mit – in den Bierpreisen, im Café, wenn erwähnt wird, dass diesmal bereits 40 Mark für das Kännchen zu bezahlen sind oder bei den Mieten: Günstig sei die 5-Zimmer-Wohnung, nur 5000 Mark (und in Klammern wird angefügt, dass schon bald 18 Milliarden würden verlangt werden würden). Das Wunderbare an dieser Darstellung ist die Dezenz, die Schwierigkeiten der väterlichen Reederei kommen ganz nebenbei zur Sprache, ohne alle Dramatik, als ein bloßes Beiwerk zur Familiengeschichte. Immer wieder die Gespräche über den Versailler Vertrag, diese Schande für Deutschland, die so alle Bestrebungen zunichte macht; und je länger der Krieg zurückliegt, desto plausibler erscheinen die Geschichten über die Dolchstoßlegende. Auch wenn Kärling dann an die tatsächliche Lage in den Gräben im Jahre 1918 denkt und sich Zweifel melden.

Schließlich doch endlich Kinder: Ursula, Robert und der Erzähler selbst, das Nesthäkchen Walter. Vom Börsenkrach und der Wirtschaftskrise erfährt man abermals zwischen den Zeilen: Die drei Schiffe liegen still im Hafen von Rostock, man muss verkaufen, ist froh, auch nur eines sich erhalten zu können. Bis dann der Aufschwung kommt – nach 1933, alles besser wird, auch wenn allenthalben Beunruhigendes geschieht: Die Küchenhilfe Rebekka muss Deutschland verlassen und Kärling bemüht sich um einen Platz als stiller Passagier auf einem Schiff, der religiöse, aber rechtschaffene Herr Franz wird verhaftet (was man so gar nicht versteht: Hat der doch für Deutschland gekämpft im Ersten Weltkrieg), schließlich auch Onkel Edgar. Devisenunterschlagung steht im Raum und der gute Onkel verkennt die Situation völlig: Sodass Tante Lotti plötzlich der unerwartete Tod ihres Mannes mitgeteilt wird. Man spricht nicht darüber, aber hat das Gefühl, dass da vieles nicht stimmt, obwohl doch anderes auch so wunderbar geworden ist in den Zeiten nach der Machtergreifung.

Ein besonderes Lob verdient die Darstellung der Kinder im Hause Kempowski: Dem Autor gelingt der so schwierige Spagat zwischen kitschiger Idealisierung und falscher Simplifizierung. Einfühlsam und genau wird das Älterwerden beschrieben, witzig, ironisch, aber auch nie den Bezug zur Geschichte außen vor lassend. Dieser zweite Band ist ein ganz außergewöhlich gelungenes Sittenbild Deutschlands, nirgendwo moralisierend, aber auch nicht in objektiver Distanz verharrend. Die Sprache einfach, aber präzise und hintergründig, humorvoll auch dort, wo die Ereignisse den Leser schlucken lassen, der mitlebt mit diesen Kempowskis, dem eigentlich lebensuntüchtigen Karl (der in manchem an Thomas Buddenbrook erinnert), den unbotmäßigen, frech-selbstbewussten Kindern, die der Vater mehr aus Pflichtgefühl denn Überzeugung zu züchtigen sich gezwungen sieht. Eine wirklich hervorragende, ausnehmend feinfühlige Schilderung der Zwischenkriegszeit, die ich mit noch mehr Genuss gelesen habe als Teil eins.


Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Hamburg: Knaus 1981.

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