Walter Kempowski: Haben Sie davon gewußt?

Es ist diese Frage, die meine Generation bisweilen gestellt hat: Allerdings hat man mir zumeist weniger ausführlich geantwortet, hat zumeist darauf verwiesen, dass die Spätgeborenen dies nicht zu verstehen in der Lage wären. Das mag teilweise richtig sein, aber das Verständnis hätte sich vielleicht eingestellt, wenn darüber gesprochen worden wäre.

Die Frage Kempowskis zielt auf die Existenz der Anhalte- und Vernichtungslager ab, auf die dort geschehenen Gräuel, auf die Morde, die Verbrennungsöfen. Von letzteren wollen im übrigen nur die allerwenigsten gewusst haben, die Zahl derer, die sich zu einem solchen Wissen bekannte, bleibt weit einstellig. Ich persönlich habe diesbezüglich meine Zweifel: Diese rühren aus Gesprächen mit der eigenen Familie. Meine Eltern, zu Kriegsende 14 bzw. 15 Jahre alt, beide Bergbauernkinder und damit von Informationsquellen so weit wie irgend möglich entfernt, haben mir beide bestätigt, dass davon – unter vorgehaltener Hand – bereits 1943 die Rede war, dass man ihnen aber von seiten der Erwachsenen strengstens verboten habe, darüber zu sprechen. Gewusst – so alle beide – hätten es fast jeder, in Unterhaltungen, auch Spielen wären Hinweise auf “Lampenschirme aus Judenhaut” oder “Vergasen” immer wieder gefallen.

Deshalb ist nicht auszuschließen, dass andere tatsächlich dieses Wissen von sich fern halten konnten. Und in fast jeder Antwort ist eine Art von Verteidigungsstrategie enthalten: “Es ging das Gerücht um, daß das existiert, aber Genaueres wußte kein Mensch”. Natürlich hat das auch mit dem “Wissen-Wollen” zu tun – und es steckt eine generelle Unschuldsvermutung in diesen Aussagen, der in anderen Antworten widersprochen wurde: “Jeder hat gewusst, dass da schreckliche Dinge passieren”. Und jeder wusste zumeist auch wenigstens einen speziellen Fall zu erzählen, eine Ausnahme, von der auch er explizit Kenntnis erhalten hatte. Daneben wurde auch die Strategie verfolgt, dass “Adolf das [mit den Juden] nicht hätte machen sollen”. Die anderen Dinge (so liest man zwischen den Zeilen und häufig auch ganz ausdrücklich) seien doch vernünftig gewesen, das mit den deutschen Gebieten, den Arbeitsprogrammen etc. Dass aber diese Sachen gar nicht getrennt betrachtet werden können, dass das eine ohne das andere nicht denkbar war, kommt kaum jemandem in den Sinn. Und “kleinere” Verbrechen – etwa die Verhaftung (und damit auch teilweise Ermordung) von Homosexuellen oder Kommunisten – naja, das schien dann doch weitgehend akzeptabel im Sinne des Ganzen.

Eugen Kogon schreibt sehr treffend in seinem Nachwort: “Die gesammelten Aussagen sind in einem Punkt allesamt gleich aufschlußreich: daß es außerordentlich schwierig, ja in der Regel unmöglich ist, in modernen Diktaturen, wenn man ihnen nicht rechtzeitig und von Anfang an kollektiv und individuell widersteht, sich der Mitverantwortung zu entziehen. Art und Grad der Mitschuld sind verschieden, häufig genug besteht sie aus – begründbaren – Unterlassungen dessen, was erforderlich wäre; sie ist bei den Nichtaktivisten der Unrechtsregime nur selten nicht eingebettet in zumindest versuchte ‘Ausgleichstaten’ und in ein mehr oder minder schlechtes Gewissen.” Weshalb es sehr sensibel zu sein gilt, wenn – egal welche Gruppe – einer inhumanen Behandlung unterworfen wird: Keiner weiß, ob nicht er selbst irgendwann zu einer solchen Gruppe zählen wird. Sind aber bestimmte Verhaltensweisen einmal grosso modo akzeptiert, ist es sehr schwer – wie Kogon richtig sagt – sich dem entgegenzusetzen.


Walter Kempowski: Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten.

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