Stewart O’Nan: Das Glück der anderen

Ich kenne den Autor von seinem Roman “Abschied von Chautauqua”, der genau und einfühlsam die kleinen Dinge des Alltags beschreibt und keiner spektakulären Ereignisse bedarf, um den Leser zu fesseln. In mancher Hinsicht ist das hier ähnlich: So in der Erzählweise, die ebenfalls sehr konzis und psychologisch feinfühlig vorgeht, weniger hinsichtlich des Inhalts. Denn Jacob Hansen, Prediger, Sheriff und Leichenbestatter der Stadt Friendship irgendwo im Mittelwesten der USA erlebt innerhalb weniger Wochen die Vernichtung von all dem, was ihm im Leben etwas bedeutet hat.

Alles beginnt mit dem Auffinden eines toten Soldaten: Vermutet Hansen zu Anfang noch ein Verbrechen, wird er vom ortsansässigen Doktor (im Buch kurz “Doc” genannt) alsbald eines besseren belehrt. Der Tote ist offenkundig einer äußerst ansteckenden Krankheit erlegen und schon bald wird klar, dass die Bewohner des kleinen Ortes dieser Ansteckung nicht entgangen sind. Hansen ist hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten als Sheriff, dem Bemühen, eine Panik zu vermeiden und dem mahnenden Gewissen, dass ihn eine sofortige Quarantäne zu verhängen drängt. Aber er zögert die Entscheidung hinaus und als er sich endlich dazu entschließt, ist es längst zu spät. Seine eigene kleine Tochter und seine Frau gehören zu den ersten Opfern, er wird ob aller Maßnahmen, die er verhängt, angefeindet und verliert schließlich mit dem Doc seinen einzigen Mitstreiter im Kampf gegen die Epidemie. Zu allem Überfluss wird die Gegend von Waldbränden heimgesucht, eine Evakuierung scheint dringend geboten, aber wieder zögert Hansen zu lange. Als er schließlich mit Waffengewalt einen Güterzug anhält und zwingt, die wenigen Überlebenden der Stadt aus der Gefahrenzone zu bringen, wird dieser Zug vom Sheriff der Nachbarstadt an der Weiterfahrt gehindert. Hansen erschießt diesen im Streit (als auch einen jungen Burschen, der den Sheriff unterstützt) und es gelingt ihm, die Weiterfahrt zu bewerkstelligen. Er selbst kehrt zurück, überlebt während des Feuersturms in einem See und muss danach feststellen, dass auch der Doppelmord, den er auf sich geladen hat, umsonst war: Der Zug entgleiste und alle Passagiere kamen ums Leben. Die letzten Seiten zeigen Hansen als Leichenbestatter, der neben all den aufgefundenen Toten auch sein eigenes Leben, seine Existenz, seine Träume bestattet.

O’Nan lässt den Sheriff selbst erzählen, allerdings verwendet er nicht die Ich-Form, sondern spricht sich in der zweiten Person an. Durch diese sprachliche Metaebene wird die Zerrissenheit der Hauptperson stärker akzentuiert, er stellt sich selbst in Frage, kann sein eigenes Tun aus fremder Warte kommentieren (auf dieselbe, wenn auch noch eindrücklichere Weise hat Gernot Wolfgruber in seinem Roman “Herrenjahre” das Leben seines Protagonisten geschildert). Hansen, durch Kriegsereignisse traumatisiert (er konnte sein Überleben nur durch Anthropophagie erreichen), hat dadurch zu seinem Glauben gefunden. Aber gerade dieser wird durch die Ereignisse mehr und mehr in Frage gestellt, seine Vorliebe für die Geschichte Hiobs oder die Opferung Isaaks erscheint ihm zunehmend fragwürdig, auch wenn die Frage nach dem Abfall vom Glauben offen bleibt. Doch das Ende scheint radikal nihilistisch: Man ist einer kalten und unpersönlichen Welt ausgeliefert, die völlig unbeeinflusst ihren Gang geht. Es gibt keinen Trost und angesichts des Geschehens erschiene jedes Vertrauen in eine höhere Macht schlicht lächerlich. Dass Hansen trotzdem sich Gottes Entscheidung fügen will, klingt am Ende seltsam widersprüchlich: Denn es waren seine, Hansens Entscheidungen, die den Tod seiner Familie zur Folge hatten, denn seine Frau wollte die Entscheidung nicht einer überirdischen Macht anheim stellen und sich bei Verwandten mit ihrer Tochter in Sicherheit bringen. Ein religiöser Determinismus a posteriori, der von aller Schuld befreien, die Verantwortung an das Schicksal delegieren soll. – Diese letzten Seiten sind vielleicht die schwächsten des Buches, weil der Autor zu offenkundig um einen positiv konnotierten Schluss bemüht ist. Ansonsten aber eine eindrucksvolle und sensible Schilderung der Zerrissenheit eines Menschen.


Stewart O’Nan: Das Glück der anderen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001.

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