Britische und US-amerikanische Horror-Stories von 1839 bis 2003

Ausschnitt aus dem Buchcover: Links ein schmaler violetter Streifen = Teil des Leinenbuchrückens. Der Rest des Bildes stellt schwarz auf grün ein gotisches Gebäude dar. Im gewählten Bildsegment sieht man zwei kleine Fenster mit Spitzbogen, eine dicke Mauer und davor, an einem Halbkreis aufgehängt, einen altmodischen Schlüssel. Das Ganze ist mit seltsamem Rankenwerk von Pflanzen verziert. (Es könnten auch Tentakeln irgendwelcher Ungeheuer sein.)

Weird Tales lautet der Titel des Buchs, das gerade vor mir liegt. Der Anklang an jene berühmte, zur Pulp Fiction gerechnete Zeitschrift voller Horror- und Grusel-Stories kommt nicht von ungefähr. Denn genau das haben wir vor uns: eine Sammlung von Horror-Stories durch verschiedene Jahrhunderte. Erschienen ist das Buch dieses Jahr (2024) bei der Folio Society in London. Herausgegeben und ausgewählt hat die Geschichten Michael Dirda. In seinem Vorwort weist er darauf hin, dass dies bereits die dritte Anthologie mit Horror-Geschichten sei, die bei der Folio Society erschienen ist. Dass das stimmt, weiß ich zufälligerweise, weil ich auch die beiden Vorgänger bereits in diesem Blog vorgestellt habe – obwohl ich keineswegs der große Fan von solchen Geschichten bin. Die erste Sammlung muss 2012 erschienen und im Folgejahr hier besprochen worden sein. Ich habe mir damals noch die Mühe genommen, jede Geschichte in einem separaten Aperçu abzuhandeln; man muss die Geschichten also ein wenig zusammensuchen. Die zweite Anthologie habe ich dann en bloc besprochen. Da mir der Titel des Buchs (The Folio Book of Horror Stories) nicht gefiel, habe ich das Aperçu, seinen Inhalt definierend, Britische und US-amerikanische Horror-Stories von 1839 bis 2015 getauft. Da nun auch diese dritte Anthologie nur Geschichten aus dem britischen und US-amerikanischen Raum beinhaltet und ich wollte, dass man im Inhaltsverzeichnis des Blog die Aperçus beieinander findet, habe ich den Titel beibehalten und nur das Datum der jüngsten Geschichte angepasst (das Erscheinungsjahr der ältesten Geschichte, Le Fanus Strange Event in the Life of Schalken the Painter, ist zufälligerweise dasselbe wie das von Poes The Fall of the House of Usher).

In seiner Einleitung gibt Dirda zu, dass er zwar die (seiner Meinung nach) besten Horror-Geschichten auswählen wollte, aber auch verhindern (musste?), dass Geschichten der bestehenden Anthologien noch einmal erscheinen. Ich bin nicht sicher, dass sich seine Skrupel nur auf diese Anthologien bezogen. In einigen Fällen habe ich den Verdacht, dass er halt doch nicht die besten Geschichten der jeweiligen Autor:innen ausgewählt hat, weil die Folio Society diese bereits in speziell einer Person gewidmeten Auswahl anbietet oder anbot. So ist die hier eingestellte Geschichte von Le Fanu bei weitem nicht seine beste, fungiert aber nicht in der ihm gewidmeten Kollektion der Folio Society. Andererseits vermisse ich auch dieses Mal schmerzlich den US-Amerikaner Ambrose Bierce – vielleicht, weil auch hier mal eine Sammlung aller seiner Kurzgeschichten bei der Folio Society erschienen ist.

Nun, jede Anthologie wird unter diesem Schicksal leiden, dass die Lesenden finden, diese oder jene Schreibenden hätte man weglassen und dafür andere einstellen müssen – und von den Geschichten gilt mutatis mutandis dasselbe.

In einer kurzen Geschichte der Gothic romance in einem Abschnitt schlägt der Herausgeber einen Bogen von den frühen Trivialromanen The Castle of Otranto von Horace Walpole, The Monk von M. G. Lewis und The Mysteries of Udolpho von Ann Radcliffe zum zwischen Trivial- und Weltliteratur eine Brücke schlagenden Frankenstein Mary Shelleys; von da folgt er der Romantik u.a. mit Coleridge’ Gedicht Rime of the Ancient Mariner oder Keats’ La Belle Dame sans Merci, um kurz die englischsprachige Literatur zu verlassen und über E. T. A. Hoffmanns Sandmann zu Balzac zu finden (Das Chagrinleder) und zu Puschkin (Pique Dame). Schließlich endet er wieder in der englischen Literatur, nämlich mit Charles Dickens’ A Christmas Carol, das den britischen Brauch initiierte, sich an Weihnachten Spukgeschichten zu erzählen.

Danach folgen im Vorwort noch kurze Abrisse / Interpretationen der folgenden Geschichten. Ich werde diese nun auch, teilweise Dirda folgend, kurz umreißen.

Sheridan Le Fanu: Strange Event in the Life of Schalken the Painter (1839)

(Ich erspare mir, nebenbei gesagt, Übersetzung des Titels oder Nachweis einer deutschen Publikation.)

Wie schon gesagt: Meiner Meinung nach bei weitem nicht die beste Geschichte Le Fanus, aber sie hat den Vorteil, dass ich sie tatsächlich noch nicht kannte. Es ist die Liebes- und Lebensgeschichte eines flämischen Malers, garniert mit einigen Gruseleffekten. Am interessantesten war für mich die Verwendung des ansonsten in Gothic Novel(la)s eher seltenen Schauplatzes der Niederlande.

Vernon Lee: Amour Dure (1887)

Vernon Lee (eig. Violet Page) hat in der Szene durchaus einen Namen. Ich hatte allerdings bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von ihr gelesen. Abermals eine Liebesgeschichte, dieses Mal trifft es einen Gelehrten, der sich im Jahr 1885 über verschiedene Texte und dann ein Bild in eine offenbar sehr rachsüchtig veranlagte Dame aus der Renaissance-Zeit verliebt. Es endet, wie zu erwarten, übel. Auch hier, wie bei der Geschichte von Le Fanu, am interessantesten für mich der Schauplatz Italien und die Zeit der Renaissance als Epoche für eine Gruselgeschichte.

Madeline Yale Wynne: The Little Room (1895)

Die Autorin war mir vorher unbekannt. In dieser Geschichte stoßen wir auf so etwas wie ein Paralleluniversum – ohne dass es je genau aufgelöst wird. Recht interessant und gut gemacht.

Arthur Machen: The Novel of the Black Seal (1895)

Diese Erzählung habe ich bereits im Rahmen der Vorstellung der Auswahl aus Machens Werk vorgestellt, die Jorge Luis Borges für seine Bibliothek von Babel getroffen hat. Ich verweise deshalb auf dieses Aperçu.

Algernon Blackwood: The Willows (1907)

Nicht nur ist auch in dieser Geschichte ein eher seltener Schauplatz für Gruselgeschichten gewählt (nämlich die Donau hinter Wien). Blackwood nimmt inhaltlich viel von H. P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos voraus; letzterer schwankte denn auch zwischen dieser Erzählung und The White People von Machen, wenn es darum ging, welche Horror-Geschichte denn nun die beste sei. The Willows ist tatsächlich sehr, sehr gut.

M. R. James: Casting the Runes (1911)

Auch James ist eine Größe des Genres. Hier geht es um einen Gelehrten, der offenbar alte magische Sprüche gefunden hat und sie auch – zum Schaden seiner Mitmenschen – anzuwenden weiß.

Mary E. Wilkins Freeman: The Hall Bedroom (1905)

Auch Mary E. Wilkins Freeman kannte ich vorher nicht, mag sein, das ist auch dem Geschlecht der Autorin geschuldet – schreibende Frauen wurden und werden noch immer marginalisiert. Hier löst ein geheimnisvolles Gemälde in einem Boarding House ungute Phänomene aus. Der Schluss klärt zu viel oder zu wenig auf; der Rest ist aber recht gut gemacht.

H. P. Lovecraft: The Call of Cthulhu (1928)

Hier ist es, wo der berühmte Mythos um Cthulhu beginnt. Schaurige Ereignisse rund um den Globus enthüllen sich als Folge eines seltsamen Phänomens, das wiederum auf ein seltsames Wesen namens Cthulhu zurückgeführt werden kann. Lovecraft versteht es meisterlich, eine schaurige Atmosphäre zu kreieren. (Ein Wermutstropfen ist dabei, dass er – zwar sprachlich-literarisch meisterhaft gemacht – bei der Schilderung einer vermeintlichen Vodoo-Zeremonie die teilnehmenden Afroamerikaner in absolut rassistischen Begriffen schildert.)

Im Übrigen gehe ich davon aus, dass Du, geneigtes Publikum, den Cthulhu-Mythos zur Genüge kennst.

Shirley Jackson: The Daemon Lover (1949)

Der Verlobte der ungenannten Protagonistin erscheint am Morgen ihrer Heirat nicht bei ihr, um sie fürs Standesamt abzuholen (der Text stammt aus der unmittelbaren Nachkriegszeit). Sie macht sich auf die Suche nach ihm und wir erleben, wie ihre Welt mehr und mehr zerbröselt. Kein übernatürlicher Horror sondern ein sehr alltäglicher. Diese Geschichte ist bedeutend besser gelungen als die seinerzeit von Campbell gewählte für die zweite Anthologie.

Karl Edward Wagner: Sticks (1983)

Horror im Stil von Arthur Machen, nur der Schluss ist ein wenig expliziter.

Robert Aickman: The Hospice (1975)

Ein Reisender verfährt sich. Der Tank seines Autos ist nahezu leer, als er zum Glück am Straßenrand ein Motel entdeckt. Er checkt ein, erlebt aber eine sehr groteske Nacht. Dirda, der Herausgeber der Sammlung, spricht von einem kafkaesken Alptraum. Das ist zwar annäherungsweise richtig, aber an Kafka kommt Aickman dann doch nicht heran. (Man sollte, nicht nur in diesem Genre hier, solche Vergleiche mit den ganz, ganz Großen der Literatur besser sein lassen. Sie lenken den Blick der Lesenden gerade so oft auf die Schwächen wie auf die Stärken des Gelesenen und trüben ihn so oder so.)

Mark Samuels: The White Hands (2003)

Dies ist noch einmal eine recht gut gemachte Geschichte, wie ein Gelehrter, hier einer aus Oxford, durch magische Verstrickungen sich in eine Tote verliebt und darüber den Verstand verliert. Dirda gibt im Übrigen in seinem Vorwort für den Autor nur ein Geburtsjahr an (1967); Samuels starb 2023, wahrscheinlich, als der Text schon im Druck war. Allerdings gibt es im Internet immer noch die eine oder andere Seite, die von seinem Tod nichts weiß. (Sein eigener Blog allerdings ist bereits vom Netz genommen.)

***

Das war’s. Im Unterschied zur Auswahl von Ramsay Campbell ist in der vorliegenden Auswahl die Bedrohung durch Sexualität weniger ostentativ, auch wenn die Frau – zumal bei den männlichen Autoren – immer gern als Gefahr für Leib und Seele betrachtet wird. Wer – wie ich – nur von Zeit zu Zeit Ausflüge in dieses Genre macht, wird sicherlich einiges Neues und sogar Interessantes finden. Wirklich schlecht war hier keine der Stories, einige davon sind sogar sehr gut gelungen.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 3

2 Replies to “Britische und US-amerikanische Horror-Stories von 1839 bis 2003”

  1. Ich lese sehr gerne Literatur aus dem 19. Jahrhundert, insbesondere des Erzähltons wegen, und da gibt es eben, angefangen seit ca. 1820 mit Mary Wollstonecraft Shelley und Frankenstein, auch so einiges an Horror. Allerdings meistens nur Kurzgeschichten, selten ganze Romane. Und nicht immer sind diese Geschichten auch wirklich gruselig: Frankenstein z.B. hat gar keine Gänsehaut erzeugt, und auch Ctulhu tut das nicht wirklich.

    Später kommen mehr Romane und die sind dann auch wirklich gruselig, wie z.B. Stephen King (Es!) oder Dan Simmons‘ Summer of Night (!). Was ich aber wirklich mag, und ich hätte das nicht erwartet, ist SciFi-Horror, z.B. Dead Space von Kali Wallace. Habt ihr sowas auch mal im Visier?

    1. Aktiv geplant ist nichts in diese Richtung, nein. Aber nicht alle Aperçus hier sind Frucht einer aktiven Planung. Es kommt auch immer wieder drauf an, was einem zu welchem Zeitpunkt übern Weg läuft.

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