Hallo scheichsbeutel,

es sind ja so viele Themen, die du anschneidest, da muss ich, glaube ich, scheibchenweise antworten. Für eine Diskussion im Forum wüsste ich gerade nicht so recht das [i]eine[/i] Thema, das ich herausgreifen sollte, aber tu dir keinen Zwang an, wenn es etwas gibt, was dich besonders interessiert.
Ich kenne natürlich die Logozentrismuskritik der Poststrukturalisten (ich wähle jetzt einfach mal einen Terminus, der mir näher liegt), allerdings eher von Derrida und von Barthes. Gerade beim letzteren geht es ja gar nicht so sehr um “naturwissenschaftliche” Erkenntnis, die abgelehnt wird, sondern wir bewegen uns hier in einem sprachphilosophischen Kontext, es geht um eine semiotische Infragestellung der Eindeutigkeit. So verstehe ich auch Derrida.
Erster Lektüretipp wären Barthes’ “Mythologies” (Mythen des Alltags). Beliebigkeit entdecke ich bei beiden nicht, es geht hier um die Funktionsweise von Sprache, darum das der Signifikant nicht auf ein eindeutiges Signifikat und schon gar nicht auf ein wie auch immer geartetes Ding an sich verweist. Das lässt sich linguistisch auch breit zeigen, und ich finde es nicht weiter beunruhigend. Es macht Verständigung nur ein bisschen anspruchsvoller.
Ohne die emphatische “Wahrheit” kommen übrigens auch Leute wie Popper aus, der ja nicht etwa glaubt, dass sich Wissenschaft der Wahrheit annähert, sondern dass eine Theorie immer die nächste ablöst. Auch für die “Posts” geht es nicht um eine Wahrheitsfindung, obwohl es da selbst im Frühwerk des von mir hochgeschätzten Michel Foucault einige Entgleisungen gibt, sondern immer um eine Plausibilisierung innerhalb unserer Wirklichkeit, die man nicht nur von unserem Erkenntnisapparat nicht trennen kann (das sagt ja auch schon Kant), sondern die eben auch kulturell hergestellt (nicht durchdrungen) ist. Es ist nicht möglich, alle Kultur abzustreifen und in einen “fröhlichen Limbus der Nichtidentität” (Foucault) einzutreten, man kann auch nicht einfach alles dekonstruieren und gelangt dann zu einem zugrundeliegenden Wahren, sondern man muss Wirklichkeit nach der Dekonstruktion immer auch wieder rekonstruieren, damit sie intelligibel wird (Derrida). So leicht kommt die Philosophie ohne Wahrheit aus. das ist allerdings das Gegenteil von einem Dispens von einer Argumentation. Die Dekonstruktion macht nur oft sichtbar, welche inneren Widersprüche bei vermeintlich “Natürlichem” oder “Logischem” am Werke sind. Das zeigen etwa die Untersuchungen von Judith Butler oder Pierre Bourdieu (beide nachdrücklich zu Lektüre empfohlen)
Die Posts sind natürlich kritisierbar. Aber für mich eine Theorie in deren Nachfolge dann zeigen, wie sie ihre eigenen blinden Flecken offenlegt und reflektiert, ihre eigenen erkenntnistheoretischen Grundlagen hinterfragt. Gerade in allem im weitesten Sinne Gesellschaftlichen halte ich das inzwischen für unabdingbar.
Darum tue ich mir auch so schwer mit einer Soziologie oder Psychologie, die allzu naturwissenschaftlich argumentiert. Ich finde es ganz schwierig das Verhalten eines Einzellers, der auf eine Molekülverbindung zuschwimmt in einem Kontinuum mit der Frage zu sehen, ob und wann man Gewalt anwenden darf, ob sich Männer schminken dürfen oder ob und in welcher Weise Privateigentum verpflichtet zu sehen Ich glaube nicht, dass es auf solche Fragen genetische Antworten gibt, auch keine entwicklungspsychologischen oder stammesgeschichtlichen. Denn wie käme es denn dann, dass sie auf so unglaublich vielfältige Weise beantwortet werden. Die “naturwissenschaftliche” Lösung impliziert ja immer eine Norm und eine Abweichung, einen Zustand, wie er von der Natur vorgesehen ist und seine angebliche kulturelle Überformung. Ich weiß nicht, zu welcher Erkenntnis mich so ein Denken führen soll? Dass ich mich widernatürlich gegen meine genetische Programmierung stemme, wenn ich mich weigere Gewalt anzuwenden, wie es meine Ahnen getan haben? Um nur ein Beispiel zu nennen, das vielleicht klar macht, wohin wir damit gelangen. Es wird ja – gerade für Männer – oft postuliert, dass sie schon endokrinologisch gar nicht anders können, als gewalttätig zu sein (eine Behauptung, die auch in der Biologie im übrigen in Zweifel gezogen wird). Heißt das, man hat eine Hormonstörung, wenn man lieber spricht als zuschlägt? Das Problem an der “Wahrheit” ist ja immer ihre Unausweichlichkeit.
Aber dieses Thema eröffnet ein so weites Feld, dass ich jetzt erst einmal einen Punkt machen will.

Liebe Grüße, Bartlebooth

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Ich entschuldige mich, dass die obige Antwort am falschen Platz steht – vielleicht kann man sie verschieben? Außerdem für die vielen peinlichen Tippfehler. Ich kann leider nicht editieren.

Ich habe sie nun hierherkopiert, werde die obere Antwort löschen. Wenn du dich anmeldest, steht dir aber die Möglichkeit des Editierens *glaub* zur Verfügung.