Hallo Bartlebooth!

Den Wahrheitsbegriff genauer zu analysieren wäre sicher ein eigenes Unterfangen. Völlig falsch ist es aber (wenn auch in unserem Zusammenhang unwichtig) zu glauben, dass Popper ohne diesen Begriff von Wahrheit auskommen würde: Das genaue Gegenteil ist der Fall. Der Begriff der Wahrheit ist für ihn unabdingbar (was er auch in fast allen seinen Büchern wiederholt betont), sein (m. E. fragwürdiger) Begriff der Wahrheitsannäherung lebt davon. Wahrheit ist schlicht für ihn etwas, ohne das wir (hier stimme ich ihm zu) nicht forschen können, wir müssen zumindest eine theoretische Vorstellung von ihr haben. Er spricht von der „Wahrheit als einem regulativen Prinzip“ (Vermutungen und Widerlegungen S. 329 und passim), das unabdingbar ist, wobei er die Korrespondenztheorie der Wahrheit dabei im Auge hat (die er von Tarskis Wahrheistbegriff bestätigt sieht, zu Tarski etwa Skribekk (Hrsg.): Wahrheitstheorien, Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik S. 140 – 189 (lesenswertes Buch bwz. lesenswerter Artikel, wenn wir schon bei Empfehlungen sind; dieser Bestätigung wird aber widersprochen, u. a. von H. Keuth (ich glaube zu Recht, aber die Beweisführungen sind sehr formal und theoretisch). Wobei ich Popper insoweit zustimme, dass wir ohne Ansätze zu einer solchen Korrespondenztheorie ebensowenig auskommen wie ohne die Annahme einer Wirklichkeit.

„[…] es geht um eine semiotische Infragestellung der Eindeutigkeit. So verstehe ich auch Derrida. […] Beliebigkeit entdecke ich bei beiden nicht, es geht hier um die Funktionsweise von Sprache, darum, dass der Signifikant nicht auf ein eindeutiges Signifikat und schon gar nicht auf ein wie auch immer geartetes Ding an sich verweist.“

Ja, aber das ist doch eine Trivialität, diesem Problem musste sich ja schon Carnap stellen (und merken, dass es sich trotz immer wieder geänderter Ansätze nicht in absolut zufriedenstellener Weise lösen lässt), dort wurde das Problem noch unter den Begriffen Intension/Extension abgehandelt. Niemand geht mehr von einem Abbildbegriff aus wie seinerzeit Wittgenstein im Tractatus, insofern ist es also nichts Neues, dass ein „Signifikant nicht auf ein eindeutiges Signifikat“ verweist: Dann wären ja die Bemühungen von Carnap, Schlick & Co. von Erfolg gekrönt gewesen.

„Die “naturwissenschaftliche” Lösung impliziert ja immer eine Norm und eine Abweichung, einen Zustand, wie er von der Natur vorgesehen ist und seine angebliche kulturelle Überformung.“

Das scheint mir ein seltsamer Begriff von Naturwissenschaftlichkeit zu sein. Naturwissenschaft zeigt doch nicht nur „Zustände“, sondern auch, wie etwas entstanden ist, sich prozessual entwickelt hat und sie zeigt vor allem (nach Max Weber), was jemand machen kann, ev. machen will, aber natürlich niemals, was er machen soll. Naturwissenschaftliches Denken, Forschen stellt keine Vorschriften darüber auf, was irgendjemand tun soll (ob sich Männer schminken sollen), sondern versucht das, was ist, zu verstehen, nachvollziehbar zu machen. Und moral-ethische Normen können nie (naturwissenschaftliche) „Wahrheit“ für sich in Anspruch nehmen: Sie können (und sollen) sich an naturwissenschaftlichem Wissen orientieren (etwa um die Sinnhaftigkeit, Durchführbarkeit, Durchsetzbarkeit von Normen zu hinterfragen). Insofern bin ich selbstverständlich ganz bei dir, diese Form des naturalistischen Fehllschlusses ist aber seit Jahrhunderten bekannt. Allerdings bedeutet das alles keinesfalls, dass die Naturwissenschaft nicht ganz Entscheidendes zur Frage von Moral und Sitten beitragen kann und dass sogar nur auf ihrer Grundlage vernünftige Entscheidung über solche Fragen möglich sind.

Zur Frage des Privateigentums (selbst zur Frage des Schminkens) darf man die geschichtliche (auch evolutionäre) Perspektive nicht hintansetzen: Eine Analyse von Gruppenverhalten, sozialer Hierarchie, Besitzdenken, Außenseitertum kann uns zumindest einmal zeigen, ob derlei etwa bei Primaten (oder primitiven Kultueren, unserer eigenen Vorgeschichte) vorkommt, warum es vorkommt, welchen Zweck es dort erfüllt, wie damit umgegangen wird, wurde. Daraus kann ich vieles lernen: Ich kann zeigen, warum ein solches Verhalten unter den geänderten menschlichen Bedingungen obsolet ist, inwieweit Privateigentum (egoistischer Vorteil) ein Antrieb für Weiterentwicklung ist, wie tief dieser verankert ist und wie (wenn er denn als „schlecht“ empfunden wird) er unterdrückt, sublimiert werden könnte (oder aber auch in Maßen ausgelebt).

Das ist es, was ich mit naturwissenschaftlicher, auch evolutionäer Betrachtungsweise meine: Unsere eigene Primatenzeit liegt so lange noch nicht zurück, unser Verhalten ist von dieser Zeit stark geprägt, auch wenn es sich jetzt als scheinbar kulturell völlig losgelöstes Verhalten präsentiert. Vielleicht ist das Schminkbeispiel (weil es so weit hergeholt wirkt) dennoch ein gutes Beispiel: Was bewegt Menschen (Tiere) dazu, „schön“, spektakulär erscheinen zu wollen, warum hat sogar die blinde Evolution „sinnlose“ Pfauenschwänze ausgebildet (ausführliche Analyse bei Dawkins u. v. a.), welche Funktionen haben Bemalungen, Tätowierungen in „primitiven“ Gesellschaften (und bei uns – möglicherweise sind ihre Funktionen sehr ähnlich etc.), wodurch wurden die oft strengen Kleidungsregeln ausgebildet usf. Das kann man nicht nur unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt analysieren, das muss man m. E. sogar tun, um sich über unsere (vielleicht versteckten) Antriebe klar zu werden (und auch klar zu werden darüber, warum es Menschen gibt, die so etwas nicht tolerieren wollen). Losgelöst von dieser wissenschaftlichen Betrachtungsweise führt das zu fruchtlosen, rein akademischen Diskussionen. (Von wegen Buchempfehlung: Ich kann dir etwa Frans de Waal empfehlen: Sehr gut lesbare Bücher über das Verhalten von Primaten, in denen ich aber ungleich mehr über das menschliche Verhalten gelernt zu haben meine als auf tausenden von Kulturphilosophen oder Soziologen beschriebenen Seiten.)

„Ich glaube nicht, dass es auf solche Fragen genetische Antworten gibt, auch keine entwicklungspsychologischen oder stammesgeschichtlichen. Denn wie käme es denn dann, dass sie auf so unglaublich vielfältige Weise beantwortet werden.“

Man soll diese Fragen (wie du weiter anführst) doch nicht auf „naturwissenschaftliche“ Weise lösen, sondern die Naturwissenschaft als Basis zu ihrer Lösung heranziehen. (Du scheinst mir eine Meinung zu unterstellen, die ich nie und nirgends vertreten habe: Dass nämlich Moral-, Ethikfragen insofern naturwissenschaftlich „gelöst“ werden können, dass auf sie eine eindeutige Antwort gefunden werden kann. Das aber ist nicht einmal in der Physik möglich – und grundsätzliche Moral- und Ethikfragen sind dezisionistisch und können niemals Allgemeingültigkeit beanspruchen.) Gerade dein Beispiel von Gewalt scheint doch ideal geeignet, um auf der Basis unserer Vergangenheit Lösungen zu finden, wie wir sie (da wir nun einmal beschlossen haben, auf gewaltfreie Methoden zu setzen) in Konflikten – ob zwischen Völkern oder im Privatbereich – vermeiden können. Dazu muss aber die zur Aggression neigende Verfassung des Menschen anerkannt werden (du begehst ja selbst einen naturalistischen Fehllschluss, in dem du das Faktum Vergangenheit mit „Richtigkeit“ gleichsetzt), die Gewalt muss wahrscheinlich auch in Maßen toleriert werden bzw. es müssen Methoden gefunden werden, wie sie (weil latent immer vorhanden) nicht mehr zum Ausbruch kommt. (Das alles unter der Voraussetzung, dass wir eben als Menschen es für gut halten, unter den gegebenen Umständen Gewalt so weit als möglich zu vermeiden.*) Die Antworten, wie wir mit unserem Gewaltpotential besser umgehen können, scheinen mir also nur aufgrund genetischer (der uns weitgehend angeborenen Aggressivität) und historisch-anthropologischer Analysen möglich zu sein. Wenn diese naturwissenschaftlichen Überlegungen hintan gehalten werden, kommt es zu möglicherweise vollkommen realitätsfremden Maßnahmen, die dann (weil sie sich um die „Natur“ des Menschen so gar nicht scheren) das Gegenteil bewirken können. (Eine solche akademische Papierlösung war etwa auch der Marxismus, sind fast alle Utopien von Morus und Campanella bis zu New Age-Bewegungen. Sie haben ein Menschenbild, das mit der Realität nichts zu tun hat.)

Also Beispiel Gewaltfreiheit: Die Entscheidung für (oder gegen) Gewaltfreiheit ist prinzipiell dezisionistischer Natur. (Aber selbst für diese Entscheidung werden höchstwahrscheinlich rational-historische Überlegungen ausschlaggebend sein: Die Kriege, die Gewalt der Vergangenheit haben gezeigt, dass andere Lösungen besser für den Menschen sind – unter der Voraussetzung (die wieder dezisionistisch ist), dass wir das Wohlergehen des Menschen für etwas Wertvolles halten.) Wenn wir uns für die Gewaltfreiheit entscheiden, müssen wir den status quo analysieren: Unsere individuelle bzw. auf Gruppen bezogene Aggressionsbereitschaft. (Wenn wir diese Bereitschaft ignorieren, werden die Lösungen nicht adäquat sein.) Können wir die Gewalt unterdrücken, sublimieren, anderweitig ausleben – welche Funktionen hatte sie in der Vergangenheit (und was müssen wir daher vermeiden, um die Aggressionsbereitschaft niedrig zu halten?), wie also soll das Ziel der Gewaltfreiheit erreicht werden, wie soll man mit Menschen umgehen, die sich dem nicht unterordnen können (wollen) etc. Das alles sind Fragen, die aufgrund von Fakten beantwortet werden müssen, wenn auch die Entscheidung letztendlich eine willkürliche ist (die für Gewaltfreiheit – besser noch: Diejenige, die das Wohl des Menschen für etwas Wichtiges hält). Ich sehe nicht, wie man ohne Berücksichtigung „wissenschaftlicher“ Fakten bzw. eines streng rationalen Vorgehens solche „kulturell-sozialen“ Fragen lösen können soll. Die Alternative wäre, Gewaltfreiheit zu dekretieren (als eine Art kultureller Errungenschaft) – und blauäugig verwundert festzustellen, dass die Menschen sich nicht dran halten.

Zu den von dir vorgeschlagenen Autoren (ich habe meine diesbezügliche Antwort überarbeitet und „geschönt“ ;-)): Ich meine von sämtlichen Autoren schon etwas gelesen zu haben (nur bei Butler bin ich mir nicht sicher). Derrida bleibt für mich außen vor, über den habe ich mal etwas geschrieben (ich hatte das verdrängt, ist mir erst vor kurzem wieder unter die Augen gekommen), das ist für mich fast unerträgliches Wortgeklingel (um es vorsichtig auszudrücken). Bei Barthes habe ich mich gelangweilt (die Mythen kenne ich, dazu könnte ich mich aber vielleicht überwinden, vor allem weil sie recht kurz sind), Bourdieu scheint mir überholt (die „feinen Unterschiede“ sind etwa methodisch als sehr fragwürdig beurteilt worden). Ich dachte eher an „neue“ Autoren, die in diesem Jahrtausend veröffentlich haben. Aber angesichts des sich bei mir türmenden Bücherstapels könnte ich ohnehin kaum sagen, wann ich Zeit finden würde.

Liebe Grüße

s.

Ich weiß nicht, ob ich auf alles eingegangen bin: Aber ich hoffe vor allem an dem Beispiel der Gewaltfreiheit klar gemacht zu haben, wie ich mir die Einbindung von Wissenschaft in kulturell-sozialen Fragen vorstelle und weshalb ich diese Einbindung auch für unbedingt notwendig halte.

*) Allerdings hat uns Hitler gezeigt, dass konsequenter Pazifismus keine endgültige Lösung ist: Denn dies setzt die Anerkennung der Gewaltvermeidung, den Konsens bereits voraus.