Zum Thema „Jugendbuch“ einige Bemerkungen:
Was bedeutet es, dass Stevenson seine „Schatzinsel“ als „romance“ bezeichnete (und damit nicht als Jugendbuch verstand)? Wahrscheinlich folgendes: Im englischen Sprachgebrauch wird in der epischen Literatur zwischen „novel“ und „romance“ unterschieden. „Novel“, das ist die in der zeitgenössischen, oft urbanen Realität angesiedelte Konfrontation der psychologisch nuanciert dargestellten literarischen Figuren mit gesellschaftlichen Normen und Zwängen. Diese Konfrontation endet mit Desillusionierung und Untergang oder gelungener Individuation bzw. geglückter éducation sentimentale. Es ist die Welt der psychologischen Entwicklungs- und Gesellschaftsromane (so werden sie zumindest im deutschen Sprachraum genannt). Es ist die Welt Flauberts, Dickens‘ und Fontanes.
„Romance“ ist der etwas unscharfe Begriff für Werke, in denen zu bestehende Abenteuer und amouröse Verwirrungen im Mittelpunkt der Handlung stehen. Wichtiges Kennzeichen einer romance ist ihre Irrealität, d.h. der Leser wird idR. in andere Zeiten und/oder Landschaften entführt, die ihm unbekannt sind und deshalb reizvoll erscheinen sollen. Walter Scotts und Alexandre Dumas‘ historische Romane, Melvilles frühe Seeabenteuer und Coopers Geschichten aus den dünn besiedelten Prärien und Wäldern Nordamerikas gehören dazu. Im Begriff „romance“ schwingt immer etwas Minderwertigkeit mit – auch im Deutschen, wo von Abenteuer- oder Liebesromanen gesprochen wird. Das ist keine „große“ Literatur, sondern reine Unterhaltung.
Wie problmatisch das ist, zeigt sich bei Herman Melvilles „Moby Dick“. Nachdem M. zwei abenteuerliche und erfolgreiche Südseeromane publiziert hatte, geriet er mit seinem abgründigen Großwerk auf die Abschussliste des breiten Lesepublikums. Sein bestes Buch leitete das quälende Ende des bis dato halbwegs erfolgreichen Schriftstellers Melville ein. Epische Breite, dramatisches Pathos, philosophische Reflektion und nüchtern geschilderte Profitsucht: Das war nicht nach dem Geschmack der Liebhaber von „romances“. Die Konsequenz: Noch heute wird der Buchmarkt mit stark gekürzten Versionen des Buchs überschwemmt. Die Reduktion auf die nackte Handlung machte „Moby Dick“ zur Jugendliteratur, ein Schicksal das auch Defoes „Robinson Crusoe“, Swifts „Gullivers Reisen“ und die sog. Lederstrumpf-Romane Coopers teilen. Dabei ist keines dieser Bücher je mit dem Anspruch geschrieben worden, die Jugend zu amüsieren oder zu belehren.
Davon zu unterscheiden sind Werke, die von vornherein ad usum delphini geschrieben wurden. Mark Twains „Tom Sawyer“ wird dazu gezählt, nicht jedoch das Folgewerk „Huckleberry Finn“. Auch „Die Schatzinsel“ wird immer noch unter diesem Etikett vermarktet. Wie berechtigt das ist, muss jeder (jugendliche oder erwachsene) Leser selbst entscheiden, wobei eines klar sein sollte: Ein Werk als Jugendliteratur zu bezeichnen, ist keine Abwertung. Oder sind junge Leser minderwertiger oder anspruchsloser als erwachsene?