Gibt es Voraussetzungen dafür, dass für Erwachsene geschriebene Romane zu Kinder- oder Jugendbüchern gemacht werden können? – Versuch einer vorläufigen Antwort, anhand von „Robinson Crusoe“, „Moby-Dick“ und „Der letzte Mohikaner“

Robinson Crusoe, Der letzte Mohikaner, Moby-Dick: Sie sind sprichwörtlich geworden, alle drei, wohl weil sie geradezu archetypisch eine Situation darstellen. Und deshalb (und ganz sicher auch, weil Verlag und Bearbeiter sich Profit erhoffen), zu Jugendbüchern umgewandelt worden. Das ist legitim und soll hier nicht weiter diskutiert werden. Ursprünglich wollte ich ja etwas zu James Fennimore Coopers Der letzte Mohikaner schreiben. Doch, nachdem ich in etwa 200 Seiten intensiv und gründlich, die restlichen 400 dann quer (sehr quer) gelesen habe, muss ich Kollege orzifar aus dem Forum zustimmen, wenn er schreibt:

Außer einer Menge Abenteuer, verruchter und edler Indianer nebst einem Weißen, der sowohl auf sein „reines“ Blut stolz zu sein vorgibt als auch auf seine „indianischen“ Fähigkeiten, gibt’s nicht viel. […] Diese Besinnung auf die Herkunft bei Weißen und Indianern mutet sonderbar an, wird aber nicht zu einer kritischen Betrachtung solcher Verhaltensweisen ausgebaut. Implizit scheint Cooper auch so manches Mal die Berechtigung der Weißen zu bezweifeln, sich in den nordamerikanischen Gefilden zu Eroberungszwecken aufzuhalten (in einem Nebensatz wird sogar einmal die missliche Lage der schwarzen Sklaven erwähnt).

Viel mehr kann ich dazu auch nicht sagen. Auf der Suche nach einer „Second Opinion“ bin ich auf eine Besprechung in einem Drittforum gestossen. Wie die meisten, auch die von Profis, äusserst enthusiastisch und positiv, sowohl, was das Werk als solches, wie auch, was die Übersetzung betrifft. Nachvollziehen kann ich nur letzteres. Jener Beitrag setzt wie folgt ein:

Herman Melville, Robert Louis Stevenson, James Fenimore Cooper: drei englischsprachige Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, denen eines gemein ist: Ihre bekanntesten Geschichten ( Moby Dick, Die Schatzinsel, Der letzte Mohikaner ) gehören auch in Deutschland zwar zur kulturellen Allgemeinbildung, doch weniger als Werke ernstzunehmender Literatur, sondern vielmehr als gekürzte, zusammengeraffte, abgeänderte, vielfach mit mehr oder weniger Erfolg verfilmte oder zu einem Jugendbuch verschnittene und auf den Markt geworfene Produkte der Unterhaltungsindustrie.

Die Schatzinsel nun ist schon immer ein Jugendbuch gewesen, vom Autor als solches geschrieben, und kommt also für mein Thema nicht in Frage. Das Thema nämlich, welche Voraussetzungen Werke (ich dachte sofort an Robinson Crusoe, Der letzte Mohikaner und Moby-Dick) haben oder haben müssen, um in Editiones ad usum delphini umgewandelt zu werden.

Das einzig Gemeinsame meiner Trias ist, dass das Skelett der Handlung problemlos als Abenteuergeschichte angesehen werden kann. In allen drei Büchern werden aussergewöhnliche, mehr oder weniger spannende und auf jeden Fall lebensgefährliche Ereignisse beschrieben. Ideal offenbar, um die Aufmerksamkeit eines jungen Menschen zu fesseln.

Damit aber hört es schon wieder auf. Robinson Crusoe ist vom Autor selber bereits in einem lehrerhaft-oberpriesterlichen Ton verfasst worden. „Sieh her, Mensch“, ruft Defoe dem Leser immer wieder zu, „was Gott dir in seinem unermesslichen Ratschluss vorher gesehen hat! Du kannst vieles, aber erkenne deine Grenzen und lobe den Herren dafür!“ So etwas bietet sich nachgerade dazu an, als pädagogisch-moralintriefendes Werk der Jugend angeboten zu werden. Es ist sicher kein Zufall, dass die bekannteste Adaption im deutschsprachigen Raum, Der schweizerische Robinson, von einem – protestantischen Pfarrer stammt. (Natürlich ist in heutigen Bearbeitungen das Moralin besser versteckt worden!)

Anders bei Moby-Dick. Da basieren die Bearbeitungen für die Jugend meiner Meinung nach auf einem Missverständnis. Zugegeben, auch Moby-Dick lässt sich auf eine Abenteuer-Schmonzette reduzieren. Doch dabei geht das zentrale Theam verloren: der für Melville typische Einbruch des Rätselhaften, ja Dämonischen, in eine scheinbar wohl geordnete Welt. Unverständlich, unbegreifbar, eben letzten Endes dämonisch, ist nicht nur die Natur (wir haben den Eindruck, dass Moby-Dick, der weisse Wal, erst vom Menschen dämonisiert wird), dämonisch ist vor allem der Mensch selber. Und alle narrativen Mittel Melvilles bzw. seines Erzählers Ishmael, die versuchen, Ordung in der Welt herzustellen – so, wenn die verschiedenen Walarten nach ganz eigenen Gesichtspunkten klassifiziert, oder detaillierte Beschreibungen von Walfangtechniken und -instrumenten geliefert werden – alle diese Versuche scheitern letztlich daran, dass der Dämon Mensch in kompletter Irrationalität sich, die andern Menschen und die Natur vernichtet, Chaos statt Ordnung stiftet.

Noch einmal anders ist die Ausgangslage beim Letzten Mohikaner. Ich habe das Buch in der ausgezeichneten Neuübersetzung von Karin Lauer, erschienen dieses Jahr im Hanser-Verlag, gelesen. Im Gegensatz offenbar zu andern Neuübersetzungen, die zur Zeit bei Hanser erscheinen, ist diese hier sehr gut gelungen. Die Sprache entspricht der, die wir von einem Werk, das 1826 erschien und im Jahr 1757 spielt, erwarten, ohne so altertümelnd zu sein, dass der Lesefluss gebremst würde. Die Anmerkungen zum Text sind gut und sehr hilfreich. Diese Neuübersetzung des Original-Textes verhilft dem Leser auch zum Aha-Erlebnis, dass Cooper keinen Abenteuerroman verfassen wollte, sondern einen historischen Roman in der Tradition seines Vorbilds Sir Walter Scott. Um es vorweg zu nehmen: Das ist ihm gelungen. Leider. Denn Sir Walter Scott ist einer jener, die mit Vorliebe in den sumpfigen Gewässern zwischen Realismus und Romantik schippern, jenen Gewässern, die meist als schönste und einzige Blüte den – Kitsch vorzuweisen haben. (Mir ist nur ein Werk bekannt, das sich in dieser Gegend herumtreibt, ohne grösseren Schaden dabei zu nehmen: Les Misérables von Victor Hugo. Wie gross die Ausnahme ist, zeigt die Tatsache, dass Hugos anderer berühmter Roman, Der Glöckner von Notre-Dame, nur wieder eine andere Sumpfblüte dieses gefährlichen Gewässers ist.)

Zugegeben, Der letzte Mohikaner ist einigermassen spannend. Zugegeben, Cooper ist erstaunlich frei von Vorurteilen, was Rasse und Religion betrifft. Seine Cora ist eine Quarterone, die aus einer Heirat (!) von Oberst Munro mit einer Mulattin stammt. Seine Indianer sind nicht nur gut und nicht nur böse, sondern in beiden Lagern zu finden. Aber gerade hier setzt meine Kritik ein: Gut und Böse sind fein säuberlich getrennt, ein Individuum ist entweder dies oder das. Die buntscheckigten Charaktere des richtigen Lebens sucht man vergebens. Dies macht den Roman für einen Erwachsenen langweilig. Dass das Liebespärchen Cora und Uncas nicht zusammen kommen kann, ist völlig vorhersehbar. Nur schon die Frage, wo die beiden ihr Leben hätten verbringen können, ist nicht beantwortbar. In seiner Kultur, im Wald, in der Prärie? Als ihr Magua ein solches Leben an seiner Seite aufzwingen will, ist Coras Abscheu nicht nur eine vor dem Manne als solchem, sondern auch eine vor der Perspektive als solcher. Sollte Uncas zu den Weissen ziehen? Sein Schicksal wäre wohl über kurz oder lang dasselbe gewesen, das Jahre später seinen Vater ereilte: als Alkoholiker am Rande einer weissen Kolonie dahin zu vegetieren. Cooper war Realist genug, das voraus zu sehen – Romantiker genug, den Knoten mit Brachialgewalt zu lösen, und die beiden Helden im letzten, blutigsten Kampf umkommen zu lassen. Auf Uncas‘ Grab blüht dann die schönste Sumpfblüte des Kitsch: Wie die beiden gestandenen Männer Falkenauge und  Chingachgook heulend dastehen – erst Karl May hat diesen Kitsch mit Winnetous Tod übertroffen. (Wie überhaupt Karl May – ausser, dass er clever genug war, Liebesgeschichten im Normalfall aussen vor zu lassen – so vieles und leider auch so viel Übles von James Fennimore Cooper gelernt hat.) Wahrscheinlich ist es gerade die Art, wie die Rollen von Gut und Böse klar verteilt sind, plus der leider leicht überdosierte Love Interest, die dieses Buch prädestinierten, für die heranwachsende (männliche) Jugend bearbeitet zu werden. Mit einem Sandstrahl-Gebläse hie und dort ein wenig die überflüssigen Verzierungen des historischen Romans wegpusten – fertig ist der Abenteuerroman ad usum delphini. Wir müssen zugeben: Dieser Roman verliert in den Augen eines Erwachsenen am wenigsten dabei.

3 Replies to “Gibt es Voraussetzungen dafür, dass für Erwachsene geschriebene Romane zu Kinder- oder Jugendbüchern gemacht werden können? – Versuch einer vorläufigen Antwort, anhand von „Robinson Crusoe“, „Moby-Dick“ und „Der letzte Mohikaner“”

  1. Zum Thema „Jugendbuch“ einige Bemerkungen:

    Was bedeutet es, dass Stevenson seine „Schatzinsel“ als „romance“ bezeichnete (und damit nicht als Jugendbuch verstand)? Wahrscheinlich folgendes: Im englischen Sprachgebrauch wird in der epischen Literatur zwischen „novel“ und „romance“ unterschieden. „Novel“, das ist die in der zeitgenössischen, oft urbanen Realität angesiedelte Konfrontation der psychologisch nuanciert dargestellten literarischen Figuren mit gesellschaftlichen Normen und Zwängen. Diese Konfrontation endet mit Desillusionierung und Untergang oder gelungener Individuation bzw. geglückter éducation sentimentale. Es ist die Welt der psychologischen Entwicklungs- und Gesellschaftsromane (so werden sie zumindest im deutschen Sprachraum genannt). Es ist die Welt Flauberts, Dickens‘ und Fontanes.

    „Romance“ ist der etwas unscharfe Begriff für Werke, in denen zu bestehende Abenteuer und amouröse Verwirrungen im Mittelpunkt der Handlung stehen. Wichtiges Kennzeichen einer romance ist ihre Irrealität, d.h. der Leser wird idR. in andere Zeiten und/oder Landschaften entführt, die ihm unbekannt sind und deshalb reizvoll erscheinen sollen. Walter Scotts und Alexandre Dumas‘ historische Romane, Melvilles frühe Seeabenteuer und Coopers Geschichten aus den dünn besiedelten Prärien und Wäldern Nordamerikas gehören dazu. Im Begriff „romance“ schwingt immer etwas Minderwertigkeit mit – auch im Deutschen, wo von Abenteuer- oder Liebesromanen gesprochen wird. Das ist keine „große“ Literatur, sondern reine Unterhaltung.

    Wie problmatisch das ist, zeigt sich bei Herman Melvilles „Moby Dick“. Nachdem M. zwei abenteuerliche und erfolgreiche Südseeromane publiziert hatte, geriet er mit seinem abgründigen Großwerk auf die Abschussliste des breiten Lesepublikums. Sein bestes Buch leitete das quälende Ende des bis dato halbwegs erfolgreichen Schriftstellers Melville ein. Epische Breite, dramatisches Pathos, philosophische Reflektion und nüchtern geschilderte Profitsucht: Das war nicht nach dem Geschmack der Liebhaber von „romances“. Die Konsequenz: Noch heute wird der Buchmarkt mit stark gekürzten Versionen des Buchs überschwemmt. Die Reduktion auf die nackte Handlung machte „Moby Dick“ zur Jugendliteratur, ein Schicksal das auch Defoes „Robinson Crusoe“, Swifts „Gullivers Reisen“ und die sog. Lederstrumpf-Romane Coopers teilen. Dabei ist keines dieser Bücher je mit dem Anspruch geschrieben worden, die Jugend zu amüsieren oder zu belehren.

    Davon zu unterscheiden sind Werke, die von vornherein ad usum delphini geschrieben wurden. Mark Twains „Tom Sawyer“ wird dazu gezählt, nicht jedoch das Folgewerk „Huckleberry Finn“. Auch „Die Schatzinsel“ wird immer noch unter diesem Etikett vermarktet. Wie berechtigt das ist, muss jeder (jugendliche oder erwachsene) Leser selbst entscheiden, wobei eines klar sein sollte: Ein Werk als Jugendliteratur zu bezeichnen, ist keine Abwertung. Oder sind junge Leser minderwertiger oder anspruchsloser als erwachsene?

  2. Literarhistorisch ist die Beurteilung Coopers nicht ganz fair, denn er stand mit seinen Roman in direkter Konkurrenz zu einer überwältigenden Flut englischen Kitsches, gegen die er sich beim Publikum durchsetzen wollte. Seine Motivation als Autor ist daher aus einer textimmanenten Lektüre heraus nicht gänzlich verständlich zu machen.

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