Lieber Bartlebooth,

„Um die Diskussion hier nicht total zu zerfasern, lass uns einfach beim Zentrum bleiben und fragen: Was gewinnst du denn bei deiner Argumentation durch eine Naturalisierung? Was bleibt denn von einer Fundierung praktisch aller Phänomene in der Natur übrig, wenn ich dann gleichzeitig sage: Das hat keine normative Implikation und das hat individuell auch keine handlungspraktische Implikation (kollektiv hat es die ja, wenn ich dich recht verstehe)?“

Das habe ich doch im letzten Beitrag ausgeführt: Es geht hier um das Webersche Diktum, dass Wissenschaft einem sagt, was man tun kann. Das ist die Quintessenz dessen, was ich geschrieben habe.

„Bleiben wir beim Gewaltbeispiel. Du leitest eine Sache und ihr Gegenteil gleichermaßen aus der Natur ab: Der Impuls zu Gewalt liegt in der Natur (nicht mal nur in der menschlichen, deine Implikation reicht ja viel weiter, wenn du menschliches Verhalten aus tierischem bis hin zu Mikroben ableitest);

Du hast das letzte Mal Ähnliches geschrieben: Ich habe von Einzellern im Zusammenhang mit der Entwicklung von Bewusstsein geschrieben und eine Reihe von Lebewesen erwähnt um zu zeigen, dass es hier einen sukzessiven Übergang gibt; ich habe aber nie menschliches Verhalten von Mikroben abhängig gemacht … Diese Bewusstseins- (Leib-Seele-) Problematik ist ja nicht der Kern unseres Problems, wir können das gerne außen vor lassen. Es ging eigentlich nur darum, dass sich Bewusstsein wie andere Körperfunktionen sukzessive entwickelt hat.

zugleich liegt in der Natur aber auch die Möglichkeit, sich gegen Gewalt zu entscheiden (das, was du immer als “Dezisionismus” ins Spiel bringst). Was bedeutet denn dann “es liegt in der Natur”? Was bedeutet dann der Aphorismus des Frans de Waal, man könne den Affen aus dem Dschungel, aber nicht den Dschungel aus dem Affen holen? Kann sich der Affe also nicht gegen Gewalt entscheiden? Wenn das so ist, warum gibt es gewalttätigere Affen(arten) als andere? Kann er es doch, inwieweit ist es relevant für das Ergebnis, dass beides “natürlich” da ist?“

Es gibt natürlich gewalttätigere Arten – und es gibt auch gewalttätigere Individuen bei einer Art (das halte ich für trivial). Das andere habe ich bereits in der letzten Antwort ausgeführt: Wir Menschen sind mit Sicherheit jene Tiere, die am wenigsten durch ihre Erbanlagen determiniert werden. Wir können etwa ein Anti-Aggressionstraining (erfolgreich) absolvieren, ich zweifle, dass eine solche Maßnahmen bei Löwen oder auch Schimpansen möglich wäre. (Waals Ausspruch scheint im übrigen dahingehend zu interpretieren zu sein, dass er daran zweifelt, dass wir aus Affen Haustiere machen können – zumindest nicht in einer Generation.)

Mir will scheinen, du postulierst eine natürliche Grundlage und dann postulierst du eine ebenfalls natürliche Gegenkraft, die immer mit ihrem genetischen Erbe kämpft. (Oder tut sie das? Ist sie nicht selbst auch genetisch? Wenn beide gleichrangig genetisch und natürlich sind, was soll dann die Aufspaltung? Oder ist Gewalt doch irgendwie natürlicher als Gewaltverzicht? Woran machst du das fest?) An schwierigeren Stellen wird dann nicht mehr die Genetik, sondern am Ende doch die Kultur in Form von Naturvölkern, Affen oder gar der Geschichte bemüht. Wie das genau zusammengeht, müssen wir gar nicht diskutieren (obwohl ich es tatsächlich nicht verstehe), mich interessiert: Was macht denn derweil die natürliche Grundierung? Welche Auswirkung hat sie denn? Hat sie welche? Ist sie von der kultürlichen Dimension überhaupt getrennt zu denken?

Siehe oben oder letztes Posting: Wir sind in geringerem Maße genetisch determiniert als Affen – und wenn man die Stufenleiter der Entwicklung sich hinabbewegt, wird die „Freiheit“ des Handelns offenbar immer geringer: Je einfach die Struktur des Organismus, umso stärker das rein instinktmäßige (durch Gene bestimmte) Handeln. Wir Menschen sind erstmals eine Spezies, die diese Bestimmtheit in Maßen durchbrechen kann (obwohl eben wir den Dschungel, den wir in uns haben, nicht unterschätzen sollten). Es geht hier nicht um „natürlicher als“, sondern um das Maß an Freiheit, das wir durch unser großes Gehirn gewonnen haben: Und zur Unterstützung dieser Freiheit dient die wissenschaftlich fundierte Feststellung, dass dem Menschen ein Aggressionspotential inne wohnt (das für unser Überleben sehr wichtig war, in bekömmlicheren Dosen auch noch ist, das aber aufgrund unserer Entwicklung zu einem Problem geworden ist: Zum einen wegen der Waffenarsenale, zum anderen aufgrund unserer völlig geänderten Form des Zusammenlebens: Bei unserer Bevölkerungsdichte dient die Aggression nicht mehr zum Überleben, sondern wird zum Problem).

„Wenn du die Natur als Grundlage nicht als Entschuldigung für irgendein Verhalten gelten lassen willst (eine normative Dimension schließt du ja aus), welchen Sinn hat sie dann? Und welchen Erkenntnisgewinn bringt sie gerade in normativen Fragen?“

Die Natur ist keine „Entschuldigung“ für irgendwas, unsere genetischen Anlagen beinhalten dieses Maß an Aggressivität. Wir sind nun als Menschen in der Lage, diese Aggressivität zu kontrollieren (mehr oder weniger gut) und sollten das im Sinne des Überlebens auch tun. Und wenn ich diese Gründe, ihre Wurzeln erkannt habe, kann der Mensch kraft seiner Intelligenz versuchen Maßnahmen zu treffen, um mit diesem Potential umzugehen. Hier liegt also das Potential wissenschaftlicher Erkenntnisse: Ich kann versuchen zu eruieren, wo diese Aggression herkommt, welchen Zweck sie bisher hatte und aufgrund dieses Wissens Strategien entwerfen, um dieser Aggression Herr zu werden. Das ist ein schwieriges Unterfangen, das bedarf verschiedenster Maßnahmen (hier müssen auch Wohnsituationen, soziale Bindungen etc. berücksichtigt werden) – und das alles funktioniert nur über solche Überlegungen und nicht über ein Verbieten oder Dekretieren (deshalb muss man bei testosterongesteuerten Jugendlichen beim Anti-Aggressionstraining häufig mit Maßnahmen arbeiten, die diese Aggression in kontrollierter Form abbauen, z. B. Boxtraining, überhaupt Sport, körperliche Anstrengung, selbstverständlich aber muss man auch auf der kognitiven Ebene arbeiten). – Im übrigen weiß ich nicht, wie man diese Dinge sonst in den Griff bekommen sollte als über solche Überlegungen: Eine kulturelle Anti-Gewalt-Philosophie wird auf jene Jugendliche, mit denen ich zu tun hatte, keinen Eindruck machen. (Man muss diesen Jugendlichen auch klar machen, dass diese Aggressionen gar nichts „Schlechtes“ sind, sondern sie auf andere Wege verweisen, wie sie sie abbauen können. Vor 10000 Jahren hätte man das auf der Mammutjagd machen können, in einem Großraumbüro, bei den beengten Wohnverhältnissen in Großstädten ist das sehr viel schwieriger.)

Ich nehme entsprechende Debattenbeiträge ganz anders war, nämlich so, dass allem Natürlichen selbstverständlich ein normativer Vorrang gegeben wird. Das mag ein uralter naturalistischer Fehlschluss sein, aber wirkmächtig ist er noch immer.

Ich weiß jetzt nicht, welche Debattenbeiträge du meinst. Wenn es sich um meine handelt, muss ich absolut widersprechen. Wenn du die große Allgemeinheit dabei im Auge hast: Ja, leider, das wird noch immer so gesehen. Ein typischer Fall dafür ist die Argumentation von Homophoben: Sie halten jede Sexualität, die nicht potentiell der Fortpflanzung dient, für „widernatürlich“, da ja die Natur blabla … Das wäre eine solche naturalistische Argumentation, gegen die ich mich vehement wehre. – Was ich mit dem Hinweis auf den Dezisionismus deutlich machen wollte war, dass es eben nie eine „natürliche“ Entscheidung bei Normen geben kann: Unsere menschlichen Normen sind immer willkürlich. Sie haben sich teilweise evolutionär bewährt (etwa das Tötungsverbot in der eigenen Gruppe), aber man wird keinen „absolut gültigen“ Grund für eine solche Normierung finden (oder für’s Gegenteil).

Ich habe nun vieles aus dem letzten Posting wiederholt (weil m. E. ich deine jetzigen Fragen dort schon beantwortet habe), hier nochmal in Kürze (wobei ich hoffe, oben auf alle deine Fragen geantwortet zu haben):

Wir werden nie absolute Normen finden oder gar deren Absolutheit beweisen können, Entscheidungen sind also dezisionistisch.

Wir sind durch unsere Gene bestimmt, aber wir haben als Menschen in einem stärkeren Maß die Möglichkeit, auch gegen diese vererbten Instinkte anzugehen (je niedriger der Entwicklungsstand, desto geringer ist diese Freiheit).

Wenn wir uns gegen bestimmte Instinkte wenden (z. B. Aggression), so ist es nützlich, die Herkunft dieser Aggression zu kennen, das evolutionäre „warum“, weil wir dann (aufgrund der dezisionistischen Entscheidung der Gewaltfreiheit) besser dagegen angehen können. (Ich weiß einfach nicht, auf welcher Grundlage du das zu tun gedenkst.)

Diese Maßnahmen müssen auch wieder wissenschaftlich aufbereitet, ihre Erfolg/Misserfolg überprüft, Alternativen erwogen werden (im Sinne der Zielsetzung).

Liebe Grüße

Scheichsbeutel