Onfray weiss so gut wie nichts über den „Atheismus an der Macht“ wenige hundert Kilometer weiter östlich von Frankreich. Es ist allerdings ins Deutsche übersetzt worden und zielt damit auch auf ein Publikum, dass heute mit atheistischer Literatur, die für ein breites Publikum bestimmt ist, nicht gerade verwöhnt wird.

Als ich vor mehr als zehn Jahren das Buch gelesen hatte, stellten sich unwillkürlich autobiographische Erinnerungen ein. Es war für mich nicht so sehr lediglich ein Objekt der intellektuellen Auseinandersetzung, da mögen die Resultate auch sehr bescheiden sein und das Buch eher überflüssig erscheinen.
Zu Beginn der 1950er Jahre, als ich noch nicht da war, wurde in der DDR ein militanter atheistischer Kampf geführt, in der Umgebung meiner Familie wurde eine harte Linie gegenüber Kirche und Gläubigen durchgezogen. Vor allem war man bestrebt, mit aller Gewalt das Christentum aus dem Umfeld der Schulen zu drängen und anstelle der protestantischen Konfirmation die Jugendweihe als säkulares Initiationsritual durchzusetzen. Mit Gewalt kam man allerdings nicht weiter. Die jüdische Gemeinde in meiner Heimatstadt (210000 Ew.) hatte zehn Jahre nach dem Krieg weniger als 50 Mitglieder.

Nach der Beendigung der harten stalinistischen Ära in der Sowjetunion mit der Ermordung zehntausender Geistlicher und der Zerstörung von Kirchen und Kunstwerken sah sich die Parteiführung bei uns angesichts der Nähe zum Westen und der weiterbestehenden familiären Bindungen zu den in der Regel christlichen Menschen Westdeutschlands genötigt, das Verhältnis zu der Kirchen zu normalisieren. 1967 trafen sich Walter Ulbricht und Landesbischof Moritz Mitzenheim anläßlich des Reformationsjubiläums auf der Wartburg, und die Losung von der „Kirche im Sozialismus“ kam auf. In den 1960/70er Jahren begann ich mich als heranwachsender vor allem für die Auseinandersetzung mit Kirche und Religion zu interessieren, in der Familie schon in dritter Generation nichtreligiös, die aber in der Schule keine Rolle mehr spielte. Es gab nur einen fakultativen „Philosophiezirkel“ (1970-1972), in dem weniger als zehn Schüler die Werke von Holbach, Feuerbach und Marx lasen.

Was gab es an Lektüre? Noch aus der Nazizeit ebenfalls ein Pamphlet von Otto Corvin „Die Heilige Trödelbude“ über die Untaten der Geistlichen und Tondi „Die geheime Macht der Jesuiten“. Mir blieb als Jugendlichem im Gedächtnis, dass die Jesuiten angeblich ihren Zöglingen befohlen hätten, regelmäßig jeden Tag einen kahlen Pfahl zu begießen, was zwar unsinnig, jedoch ungemein disziplinfördernd zu sein schien. Nun, in dieser Hinsicht hatten „wir“ mit der bei uns angewandten Pädagogik auch einiges zu bieten.
Und dann bekam ich, wie schon geschrieben, die in Massenauflagen verlegten Werke von Meslier, d’Holbach, Helvetius, Diderot („Die Nonne“!), Feuerbach, Marx, Engels, Lenin, Plechanov, Lunacarskij und auch Ernst Haeckel in die Hand (von dessen bedenklichen biologistisch-rassistischen Auslassungen man erst viel später erfuhr). Diese ganze Welt des „Atheismus an der Macht“ existiert für M. Onfray nicht, ich muss aber auch sagen, für ernst zu nehmende Autoren, wie Georges Minois oder Richard Dawkins, ebenfalls nicht. Für Jahrzehnte waren Millionen von Menschen in mehreren Generationen aus dem Umfeld von Religion und Kirche schon ausgeschieden.
An wen richtet sich das Pamphlet? Mit seiner Verachtung und dem Zynismus kann Onfray Gläubige kaum erreichen, höchstens eher Gleichgesinnte. Das hat man oft bei „gewendeten“ Eiferern, dass sie von dem in der Jugendzeit erfahrenen Extrem in ein anderes verfallen.
Nach 1990 hatten die zu Atheisten Erzogenen die Erfahrung zu machen, dass Vertreter der evangelischen Kirche mit Bittgottesdiensten und Kerzen sehr wohl ein Regime maßgeblich mit zum Einsturz bringen konnten. Eine Pfarrerstochter und ein Pfarrer aus dem Osten konnten sogar in die höchsten Staatsämter des geeinigten Deutschlands gelangen, obwohl sie nicht die Masse der vorwiegend nichtreligiösen Bevölkerung repräsentieren.
Fazit dieses Ausflugs in die eigene Vergangenheit: Onfray sieht nicht, dass sich vor allem in den protestantischen Kirchen auch emanzipatorische, systemsprengende Tendenzen entwickelten, er hat vor allem die katholische Kirche in Frankreich vor Augen, vom östlichen Ausland, gelinde gesagt, keine Ahnung. Und die Erfolge und Widerstände in Zusammenhang mit der Tätigkeit des Franziskus zeugen auch von der ungeheuren Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit bestimmter Kreise der katholischen Kirche, deren Macht man mit solcher Art von Literatur gewiß nicht beikommen kann. Auch wenn ich abtreten werde, wird das Bedürfnis bei vielen Menschen nach überirdischem Trost weiter bestehen. Von den ursprünglichen Lehren der tonangebenden evangelischen Kirche ist höchstens noch eine allgemeine, auf dem NT fußende Moralvorstellung übrig geblieben, die individuellen Gottesvorstellungen dürften bei Gläubigen so verschieden sein, das am Ende nur noch eine Art Pantheismus (All-Eins) übriggeblieben ist. Diese Menschen kann man mit dieser Art Literatur nicht erreichen.