In der ubiquitären Enzyklopädie wird die Behauptung zitiert, dass Onfray „offene Türen einrennt“. Zu konstatieren ist jedoch, dass die religiösen Organisationen offiziell weder von obsoletem Regelwerk noch absurden Jenseitsvorstellungen abgerückt sind, und dass ihre Funktionäre von den Machthabern auch in unseren Rechtsstaaten hofiert werden. Erinnert sei nur an die singuläre Rasanz, mit der in Deutschland das mit heißer Nadel genähte Beschneidungsgesetz durchs Parlament gepeitscht wurde. Grundgesetz Artikel 2, Recht auf körperliche Unversehrtheit? Vorsichtshalber ist da die Klausel hinzugefügt: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Also, kein Grund zur Beanstandung.

Gewiss waren manche religiösen Gebote sozial sinnvoll, was auch Onfray zugibt, wenn er die Hygienevorschriften der heiligen Schriften aufzählt, einige davon vernünftig – aber so elementar, dass es erstaunlich ist, dass dafür die Religion bemüht werden musste. In anderer Hinsicht meint das schon Feuerbach: Zu Zeiten, als es weithin üblich war, fremde Wanderer stillschweigend zu beseitigen, war es ein Fortschritt, Zeus zum Garanten des Gastrechts zu ernennen, obwohl das bestimmt nicht immer was genützt hat. Aber heutzutage braucht man sich von dem Dostojewski-Unfug nicht mehr hinters Licht führen zu lassen: «Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt.» Nee, isses nich. Wobei zudem, wie es Onfray tut, darauf hinzuweisen ist, was Gottesgläubige gerade wegen ihres Glaubens für erlaubt hielten: Kreuzzüge, Ketzerverbrennungen, Bartholomäusnacht…

Onfrays Bemerkung, dass im laufenden philosophiegeschichtlichen Betrieb, wenn es ums 18. Jahrhundert geht, die üblichen Verdächtigen ausdauernd wiedergekäut, aber missliebige Radikale kaltgestellt werden, ist begründet:

«Exemple: le travail du baron d’Holbach n’existe pas dans l’Université : pas d’édition savante ou scientifique chez un éditeur philosophique ayant pignon sur rue ; pas de travaux, de thèses ou de recherches actuelles d’un professeur prescripteur dans l’institution ; pas d’ouvrages en collection de poche, évidemment, encore moins en Pléiade – quand Rousseau, Voltaire, Kant ou Montesquieu disposent de leurs éditions ; pas de cours ou de séminaires consacrés au démontage et à la diffusion de sa pensée ; pas une seule biographie… Affligeant!» (Traité d’athéologie: physique de la métaphysique, Grasset, 2005, S. 61) (Die Übersetzung des Titels in der deutschen Ausgabe ist sehr frei geraten.)

In den 70er Jahren gab es das «System der Natur» als Taschenbuch bei Suhrkamp. Aber das dürfte längst vergriffen sein. Unter solch trüben Umständen ist es allemal löblich, dass Onfray mit seinem Buch einen Verkaufserfolg hatte. Mag sein, dass es ein Pamphlet ist. Doch auch die Art Litteratur hat wohl ihre Berechtigung, ebenso wie die Absicht, ein breiteres Publikum zu erreichen, das auf Fußnoten eher nicht erpicht ist. So wird in der Sache zwar kaum Neues geboten. Aber ich finde die Formulierungen nicht „untergriffig“, sondern oft, eben, griffig. Ein paar sind sogar Bonmots, wie:
«Mais en quoi l’éthique chrétienne et celle de Kant diffèrent-elles? En rien… La montagne kantienne accouche d’une souris chrétienne.» Darauf war Nietzsche nicht gekommen. Auch der schrieb übrigens ohne Fußnoten.