Sehr geehrter Herr Kühnen!
Dass mir ihr Buch „nicht gefallen“ habe, trifft nicht den Punkt: Ich empfand ihre Argumentation (insbesondere im letzten Kapitel die Religion betreffend) als – vorsichtig ausgedrückt – seltsam. Zur Präzisierung meiner obigen Ausführungen: Sie zitieren auf S. 264 ff. eine neuseeländischen Studie, dass Kinder, denen suggeriert wird, dass sich im Raum eine unsichtbare „Prinzessin Alice“ befinden würde, in der Versuchssituation weniger oft mogeln und schließen daraus auf den im moralischen Sinn positiven Effekt eines „big god“. Auf diese Weise könnte man auch den positiven Effekt der Stasi oder der Gestapo herleiten: Es ist eine Trivialität, dass Menschen, die sich beobachtet fühlen, weniger häufig Übertretungen begehen. Das Phänomen der Religiosität ist allerdings viel komplexer: Denn die Religion dient zwar häufig dazu, bestimmte soziale Ge- und Verbote zu legitimieren, diese Gebote wenden sich aber in der Regel nur an die eigene Gruppe. So wird auch vom biblischen Tötungsverbot der Feind (der andere, Ungläubige) explizit ausgenommen. Und Religionen verleihen nicht nur den entsprechenden Geboten eine höhere Legitimation, sondern sie fordern im Umkehrverfahren (ebenso göttlich legitimiert) die Vernichtung der Feinde: Wahrscheinlich hat in der Geschichte kein Begriff öfter als Ausrede für entsprechende Schlächtereien gedient als der eines (nur das eigene Vollk liebende) Gottes. Es sind diese m. E. wenig stringenten Schlussfolgerungen, die mein Missfallen ausgelöst haben.
Das zweite ist eine gewisse intellektuelle Unredlichkeit, die ich beim Thema Religion (und auch in ihrem Buch) immer wieder beobachten konnte (zumindest hier in Österreich, wobei die Situation in Deutschland nicht viel anders sein dürfte): In einer Art vorauseilendem Gehorsam wird ständig der Respekt vor religiösen Gefühlen betont, ohne die Herkunft dieser religiösen Gefühle zu hinterfragen oder gar kritisch zu durchleuchten. Nun mag es im Privatleben in manchen Situationen ein Gebot der Höflichkeit sein, die Religiosität des Gegenüber nicht ständig zu thematisieren. An der Universität, in Wissenschaft und Forschung aber ist eine solche Haltung nach meinem Dafürhalten unredlich, oft auch feige (der Einfluss theologischer Fakultäten ist in Österreich nicht unbeträchtlich und eine entsprechende Haltung der Karriere nicht wirklich förderlich): Die gesamte christliche Mythologie von Sündenfall, Erlösung, Auferstehung, Himmelfahrt, Taufexorzismus etc. ist nebst den gesamten Ausprägungen von Intoleranz, Frauen- und Vernunftfeindlichkeit zum einen eben genau das – ein Mythos – und beinhaltet zum anderen einen mehr als zweifelhaften moralischen Verhaltenskodex. Warum also muss man vor solch archaischen, vernunft- und moralwidrigen Prinzipien immer „Respekt“ haben? Ich persönlich habe schon genug damit zu tun, religiöse Menschen zu tolerieren (im ursprünglichen Wortsinn: Sie zu ertragen), mein ganzes, anderes Tun aber hat mit den Werten der Aufklärung zu tun (die denjenigen des Christentums diametral gegenüberstehen). Und während ansonsten überall auf wissenschaftliche Standards verwiesen und auf deren Einhaltung gedrungen wird, werden Forscher in Bezug auf die Religion plötzlich nicht müde, einem archaischen, amoralischen Gottesbegriff ihre Referenz zu erweisen. – Deshalb also mein „nicht gefallen“: Weil Sie es sich m. E. ein wenig zu leicht gemacht haben und schwer nachvollziehbare Forschungsergebnisse als den moralischen Wert von Religionen stützend bezeichnet haben. (Ich kann mich irren: Aber ich unterstelle Ihnen, dass sie mit der gesamten, oben nur mangelhaft skizzierten christlichen Dogmenlehre rein gar nichts am Hut haben. Und dass sie jemanden, der in einem anderen (wissenschaftlichen) Zusammenhang einen dem Christentum (oder anderen Religionen) vergleichbaren und moralisch fragwürdigen Unsinn von sich geben würde, selbstverständlich einer Kritik unterzögen. Aus unerfindlichen Gründen aber ist wissenschaftliche Redlichkeit in Bezug auf Religionen verpönt, man glaubt Rücksicht auf die persönliche Befindlichkeit anderer Menschen nehmen zu müssen, auf die eine nicht religiös motivierte Lebenseinstellung niemals Anspruch erheben könnte: Man stelle sich etwa den (berechtigten) Aufschrei vor, wenn Patrick J. Gearys hervorragendes Buch über die „Europäischen Völker im Mittelalter“ mit Rücksicht auf verquere Nationalisten oder seltsame Patrioten mit einer Entschuldigung versehen werden würde (müsste), um die nationalistischen, patriotischen Gefühle der Betreffenden nicht zu verletzen.)
Mit freundlichen Grüßen
scheichsbeutel