Die interessantesten Teile sind die Zusammenfassungen längst bekannter Studien von de Waal, Gigerenzer, Jared Diamond oder Robert Axelrod, wobei man hier zu den Originalen greifen sollte. Der Rest ist ziemlich triviale Küchenpsychologie (in der Form von Büchern wie „Warum Frauen nicht einparken können …“) anhand von statistischen Erhebungen oder Studien, die – wohl auch, weil sie nicht genauer erläutert werden – ziemlich dubios anmuten. Beispielsweise bezieht sich Kühnen auf die Untersuchung von Robin Dunbar, der einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Neocortex und der sozialen Gruppengröße konstatierte (der Wert liegt etwa bei 150: Das bedeutet, dass der Mensch mit so vielen anderen Individuen einer Gruppe vernünftig sozial interagieren kann). In der Folge fand man dann diese „Dunbar-Zahl“ in allen möglichen Zusammenhängen: So wurden 380 Millionen Tweets von 1,7 Millionen Usern auf Twitter analysiert und dabei festgestellt, dass User auf Twitter durchschnittlich 100 bis 200 „stabile Beziehungen“ hätten, was als Bestätigung dieser Dunbar-Zahl angesehen wurde. Kein Wort darüber, wie man den Begriff einer „stabilen Beziehung“ definiert (und es liegt nahe, dass ich ihn genau so definieren kann, dass er in diesen Bereich fällt).
Und so ist man auch bei zahlreichen anderen vorgestellten Studien darauf angewiesen, dem Autor brav alles zu glauben und dubios anmutende Untersuchungsergebnisse einfach hinzunehmen. (Die Ausnahmen beziehen sich auf jene bekannten Studien der bereits erwähnten Autoren.) Gegen Ende des Buches unternimmt der Autor schließlich den Versuch, die Sinnhaftigkeit von Religionen nachzuweisen und glaubt einen Zusammenhang zwischen Religiosität und niederer Verbrechensrate feststellen zu können (da die Furcht vor göttlicher Bestrafung den potentiellen Verbrecher an seinem Tun hindern würde). „Der Prozentsatz an Menschen in den jeweiligen Ländern, der an die Hölle glaubte, korrelierte negativ mit der Verbrechensstatistik: Je mehr Menschen an die Hölle glaubten, desto weniger Verbrechen kamen dort vor.“ Das ist aus zwei Gründen völliger Nonsens: Zum einen ist die Korrelation genau umgekehrt: Je mehr Gläubige, desto mehr Verbrechen. Wer etwa diese Daten betrachtet (unter der Karte finden sich auch die Zahlendaten) und mit der Religiosität in Bezug setzt (etwa hier oder hier, in dieser Auflistung ist die Zahl der Atheisten nicht explizit bzw. nur bei wenigen Ländern angegeben, sodass man die Zahlen herausrechnen müsste) könnte (bzw. müsste) vom Gegenteil überzeugt sein. Allerdings halte ich auch diesen (scheinbaren) Zusammenhang für Nonsens: Verbrechensrate und Religiosität korrelieren offenbar negativ mit dem Bildungsniveau, den ökonomischen und vor allem den sozialen (der Unterschied zwischen arm und reich darf nicht zu groß sein) Verhältnissen, sie sind beide das Ergebnis dieser Faktoren und verursachen sich nicht gegenseitig. Obschon Kühnen auf das bekannte Phänomen des Verhältnisses der Anzahl der Störche zur Zahl der Geburten hinweist (positiv korreliert) und damit die unter statistikverseuchten Soziologen endemische Korrelationskoeffizientengläubigkeit kritisiert, wird er selber ein Opfer dieses Wahns: Denn die seine Auslegung fundierenden Daten stammen aus der weltweiten „Wert-Umfrage“, einem Riesendatensatz, aus dem ich bei entsprechendem mathematischen Geschick so gut wie alles herauslesen kann. Was denn offenbar auch getan wurde, ohne weiter darüber nachzudenken (das hat auch mit dem typischen Weichei-Agnostizismus dieser Forscher zu tun: So betont auch Kühnen „aus Respekt vor religiösen Gefühlen“ (man darf da einen Gott, der seinen Sohn für die durch einen Apfeldiebstahl sündig gewordene Menschheit opfert, keinesfalls lächerlich finden) nicht sagen zu wollen, dass es Gott nicht gibt. Um nicht das religiöse Empfinden zu verletzen …
So ist dieses Buch dort lesbar, wo sich Kühnen bei anderen Autoren bedient, über weite Strecken hingegen ein auf ein Massenpublikum getrimmtes Sachbuch, das nichts Neues bietet, bestenfalls andere Theorien vereinfacht. Empfehlung: Die oben erwähnten de Waal, Gigerenzer, J. Diamond & Co. im Original lesen und das Geld für dieses Elaborat sparen.
Ulrich Kühnen: Tierisch kultiviert. Heidelberg: Springer Spektrum 2015.
Sehr geehrter Leser Scheichsbeutel,
es sei Ihnen unbenommen, wenn Sie meinen Argumentationen nicht zustimmen können. Nochmals: Ich bedaure es sehr, wenn es mir nicht gelungen ist, Sie zu überzeugen. Erlauben Sie mir jedoch, auch für mich und mein Buch den Geist der Aufklärung in Anspruch zu nehmen. Dieser Geist steht vor allem der Auffassung entgegen, irgendwer von uns sei im Besitz absoluter Wahrheiten. Voreingenommenheiten jedweder Art, die ihren Ausdruck in despektierlicher Terminologie finden, haben mit diesem Geit jedoch nichts zu tun.
Hochachtungsvoll,
Ulrich Kühnen
Sehr geehrter Herr Kühnen,
ich wüsste nicht, wo ich für mich in Anspruch genommen hätte, im Besitze „absoluter Wahrheiten“ zu sein (ich sehe mich als konsequenten Fallibilisten). Eigenartigerweise wird diese Form eines radikalen Skeptizismus (dieses „wir wissen es ja auch nicht genau“) immer im Zusammenhang mit Religionen aufs Tapet gebracht; handelt es sich um Waldwichtel oder Quellnymphen, würde man trotz gleicher Beweislage* niemals auf eine solche radikal-philosophische Position zurückgreifen. (Es klingt hier die von Gläubigen oft in Anspruch genommene Umkehrung der Beweislast mit: Aber der Behauptende ist verpflichtet, entsprechende Argumente beizubringen, nicht der an der Behauptung Zweifelnde für seine Skepsis.)
Despektierliche Terminologie? Nur weil ausgesprochen wird, dass es sich beim christlichen Gott um einen archaischen, amoralischen Wetter-, Wind- und Feuergott handelt? Das „Despektierliche“ entsteht doch einzig dadurch, dass diesem Wesen heute noch Anerkennung gezollt wird (was sowohl in moralischer als auch aufklärerischer Hinsicht höchst fragwürdig ist). Handelt es sich hingegen um Nana Burukuru aus der Religion der Yuruba oder Uitzilopochtli (bzw. Vitzliputzli, ein Name, der bei Kindern (empirischer Wert) Interesse an religiösen Fragen weckt), wird auf subtiles, philosophisches Sezierbesteck weit weniger geachtet und auch der radikale Skeptizismus, mit dem der christliche Gott „aus Respekt“ betrachtet wird, ist plötzlich von eingeschränkter Wichtigkeit (weil man denn doch nicht an afrikanische Wassergeister oder aztekische Sonnengötter glaubt). Aber wehe, wenn Jahwe oder die Trinität nicht die gebührende Hochachtung erfahren: Dann ist man respekt- und gefühllos anderen gegenüber oder befleißigt sich despektierlicher Terminologie.
Mit freundlichen Grüßen
scheichsbeutel
*) Die Beweislage in Bezug auf Waldwichtel hat während der letzten Weihnachtsferien eine grundlegende Änderung erfahren, da ich aus berufener (dreieinhalbjähriger, gewitzter) Quelle weiß, dass sich die inkriminierten Wesen auch auf meinem Waldgrundstück aufzuhalten pflegen und von erwähnter Quelle auch in ihrem Tun und Treiben beobachtet wurden. In diesem Zusammenhang (aber nicht gegenüber christlichen Würdenträgern) halte ich von Respekt und Toleranz außerordentlich viel und sehe von eingehender philosophischer Analyse (so wurde das Beobachtungsdatum „Waldwichtel“ nicht durch Intersubjektivität, Wiederholbarkeit gestützt) ab.
Sehr geehrter Leser Scheichsbeutel,
ich bin der Autor des Buches, das Sie hier renzieren. Schade, dass es Ihnen nicht gefallen hat.
Alle, dies sich trotzdem ein Bild von meinem Buch machen möchten, lade ich ein, die Website zum Buch zu besuchen. Dort finden Sie auch viele weiterführende Informationen. Sie finden sie unter:
http://www.tierisch-kultiviert.de
Mit freundlichen,
Ulrich Kühnen
Sehr geehrter Herr Kühnen!
Dass mir ihr Buch „nicht gefallen“ habe, trifft nicht den Punkt: Ich empfand ihre Argumentation (insbesondere im letzten Kapitel die Religion betreffend) als – vorsichtig ausgedrückt – seltsam. Zur Präzisierung meiner obigen Ausführungen: Sie zitieren auf S. 264 ff. eine neuseeländischen Studie, dass Kinder, denen suggeriert wird, dass sich im Raum eine unsichtbare „Prinzessin Alice“ befinden würde, in der Versuchssituation weniger oft mogeln und schließen daraus auf den im moralischen Sinn positiven Effekt eines „big god“. Auf diese Weise könnte man auch den positiven Effekt der Stasi oder der Gestapo herleiten: Es ist eine Trivialität, dass Menschen, die sich beobachtet fühlen, weniger häufig Übertretungen begehen. Das Phänomen der Religiosität ist allerdings viel komplexer: Denn die Religion dient zwar häufig dazu, bestimmte soziale Ge- und Verbote zu legitimieren, diese Gebote wenden sich aber in der Regel nur an die eigene Gruppe. So wird auch vom biblischen Tötungsverbot der Feind (der andere, Ungläubige) explizit ausgenommen. Und Religionen verleihen nicht nur den entsprechenden Geboten eine höhere Legitimation, sondern sie fordern im Umkehrverfahren (ebenso göttlich legitimiert) die Vernichtung der Feinde: Wahrscheinlich hat in der Geschichte kein Begriff öfter als Ausrede für entsprechende Schlächtereien gedient als der eines (nur das eigene Vollk liebende) Gottes. Es sind diese m. E. wenig stringenten Schlussfolgerungen, die mein Missfallen ausgelöst haben.
Das zweite ist eine gewisse intellektuelle Unredlichkeit, die ich beim Thema Religion (und auch in ihrem Buch) immer wieder beobachten konnte (zumindest hier in Österreich, wobei die Situation in Deutschland nicht viel anders sein dürfte): In einer Art vorauseilendem Gehorsam wird ständig der Respekt vor religiösen Gefühlen betont, ohne die Herkunft dieser religiösen Gefühle zu hinterfragen oder gar kritisch zu durchleuchten. Nun mag es im Privatleben in manchen Situationen ein Gebot der Höflichkeit sein, die Religiosität des Gegenüber nicht ständig zu thematisieren. An der Universität, in Wissenschaft und Forschung aber ist eine solche Haltung nach meinem Dafürhalten unredlich, oft auch feige (der Einfluss theologischer Fakultäten ist in Österreich nicht unbeträchtlich und eine entsprechende Haltung der Karriere nicht wirklich förderlich): Die gesamte christliche Mythologie von Sündenfall, Erlösung, Auferstehung, Himmelfahrt, Taufexorzismus etc. ist nebst den gesamten Ausprägungen von Intoleranz, Frauen- und Vernunftfeindlichkeit zum einen eben genau das – ein Mythos – und beinhaltet zum anderen einen mehr als zweifelhaften moralischen Verhaltenskodex. Warum also muss man vor solch archaischen, vernunft- und moralwidrigen Prinzipien immer „Respekt“ haben? Ich persönlich habe schon genug damit zu tun, religiöse Menschen zu tolerieren (im ursprünglichen Wortsinn: Sie zu ertragen), mein ganzes, anderes Tun aber hat mit den Werten der Aufklärung zu tun (die denjenigen des Christentums diametral gegenüberstehen). Und während ansonsten überall auf wissenschaftliche Standards verwiesen und auf deren Einhaltung gedrungen wird, werden Forscher in Bezug auf die Religion plötzlich nicht müde, einem archaischen, amoralischen Gottesbegriff ihre Referenz zu erweisen. – Deshalb also mein „nicht gefallen“: Weil Sie es sich m. E. ein wenig zu leicht gemacht haben und schwer nachvollziehbare Forschungsergebnisse als den moralischen Wert von Religionen stützend bezeichnet haben. (Ich kann mich irren: Aber ich unterstelle Ihnen, dass sie mit der gesamten, oben nur mangelhaft skizzierten christlichen Dogmenlehre rein gar nichts am Hut haben. Und dass sie jemanden, der in einem anderen (wissenschaftlichen) Zusammenhang einen dem Christentum (oder anderen Religionen) vergleichbaren und moralisch fragwürdigen Unsinn von sich geben würde, selbstverständlich einer Kritik unterzögen. Aus unerfindlichen Gründen aber ist wissenschaftliche Redlichkeit in Bezug auf Religionen verpönt, man glaubt Rücksicht auf die persönliche Befindlichkeit anderer Menschen nehmen zu müssen, auf die eine nicht religiös motivierte Lebenseinstellung niemals Anspruch erheben könnte: Man stelle sich etwa den (berechtigten) Aufschrei vor, wenn Patrick J. Gearys hervorragendes Buch über die „Europäischen Völker im Mittelalter“ mit Rücksicht auf verquere Nationalisten oder seltsame Patrioten mit einer Entschuldigung versehen werden würde (müsste), um die nationalistischen, patriotischen Gefühle der Betreffenden nicht zu verletzen.)
Mit freundlichen Grüßen
scheichsbeutel
Danke!