H. P. Lovecraft: The Case of Charles Dexter Ward [Der Fall C.D.W.]

Die wohl bekannteste Geschichte von Lovecraft. Wie „The Dream-Quest of Unknown Kadath“ wollte Lovecraft auch diese Geschichte zu Lebzeiten nicht veröffentlichen; er hielt sie wohl nicht für gut genug …

Das erstaunt angesichts der konsequent durchkomponierten Handlungsführung dieser Kurzgeschichte. Lovecraft schildert die psychische Erkrankung des Charles Dexter Ward. Dieser ist der jüngste Nachkomme einer alten New-England-Familie und lebt in Providence, R.I. (also genau wie Lovecraft selber!). Er war schon immer etwas speziell, wie man so schön sagt, und interessierte sich mehr für alte Bücher über Kabbalistik und ähnliches als für die Dinge, für die sich ein junger Mann sonst so interessiert. Im Laufe seiner Forschungen stösst er auf die Spur eines Vorfahren, Joseph Curven. Seine Zeitgenossen und seine unmittelbaren Verwandten und Nachfahren haben zwar alles unternommen, dessen Spur auf dieser Erde möglichst auszutilgen. In einer Rückblende wird dem Leser mitgeteilt, was Charles Dexter Ward über seinen Vorfahren in Erfahrung zu bringen vermag – Ward erzählt es nämlich dem Arzt der Familie.

Nach Abschluss der Rückblende erlebt der Leser dann sozusagen „live“ mit, wie Charles Dexter Ward sich immer merkwürdiger zu benehmen beginnt. Er findet ein Portrait seines Vorfahren und lässt es in seiner Bibliothek aufhängen. Eines Tages ist das Portrait verschwunden, und der junge Mann zieht aus. Er beginnt, sich psychisch und physisch zu verändern, und verschweigt und versteckt seine Forschungen.

Dem Arzt der Familie fallen nach und nach so einige Dinge auf. Zuerst natürlich die medizinischen Veränderungen. Dann aber auch Fälle von Vampirismus, die sich in Providence ereignen. Die merkwürdigen Geräusche, die aus Wards neuer Heimstätte dringen, die zufälligerweise an derselben Stelle liegt, wo schon Curven offenbar ein geheimes Laboratorium unterhielt. Die merkwürdigen Briefe und Pakete, die Ward aus aller Welt erhält. Die merkwürdige antiquierte Sprache, die er plötzlich spricht. So nach und nach setzt er das Puzzle zusammen: Es ist nicht mehr Charles Dexter Ward, mit dem er es nun zu tun hat, sondern Joseph Curven, ein uralter Zauberer. Curven versucht offenbar, die Geister und/oder Körper längst Verstorbener wieder zum Leben zu erwecken, nachdem es Ward gelungen war, ihn selber wieder zum Leben zu erwecken. Der alte Arzt kann Curven in extremis stoppen; doch Ward ist tot. Er war das erste Opfer von Curven.

Alle Ingredienzien des klassischen Horror-Romans sind vorhanden: alte Pergamente mit unheimlichen Zaubersprüchen; Untote; die Beschwörung unheimlicher Mächte; der Versuch, Leben zu erschaffen; der alte Weise, der den Unfug im letzten Moment stoppen kann. Die Rückblende ist korrekt eingesetzt, genau zu dem Zeitpunkt, als der Leser zu ahnen beginnt, dass der alte Curven vielleicht doch noch eine Rolle in der Gegenwart spielt, obwohl er nach allen Gesetzen der Natur tot sein muss. (Dies also ganz im Gegensatz zum „Mönch“ von Mathew Lewis, wo die Rückblende zu lange dauert und zu viel Material brachte, das einerseits für die Gegenwart komplett irrelevant war, oder wo andererseits es dem Leser klar sein musste, dass die Geschehnisse der Vergangenheit in einem Fiasko geendet haben mussten, weil er in der Gegenwart schon mit dem Resultat dieses Fiaskos konfrontiert gewesen war. Das alles vermeidet Lovecraft geschickt.)

Mehr noch: Zum Schluss rätselt der Leser darüber, ob den nun diese Horrorgeschichte tatsächlich stattgefunden hat. Curven, der sich für Ward ausgegeben hat, und in einer Nervenheilanstalt untergebracht wurde, wird vom Arzt in einer kabbalistischen Session vernichtet. Oder war es doch so, dass der alte Arzt aus Mitleid mit seinem jungen Freund und Patienten ihm die Flucht ermöglichte? Der Arzt gab an, tief unter dem „offiziellen“ Keller des Hauses, in dem sich Ward/Curven aufhielt, auf ein horrormässiges, dämonisches Laboratorium gestossen zu sein, in dem sich fürchterliche Gestalten aufhielten. Als er am nächsten Tag wieder in diese Höhlen steigen wollte, war da, wo er einen Eingang gefunden hatte, blanker Zementboden. Ein übler Traum oder litt der Arzt vielleicht selber an wahnhaften Anfällen? War die Krankheit Wards vielleicht nur eine Nervenüberreizung oder ein atavistischer Rückfall des armen Jungen?

Lovecraft lässt dem Leser diese Interpretation offen. Immerhin war er selber ja durchaus der modernen Naturwissenschaft zugetan und Atheist. Bei allen Rätseln und Horrorgeschichten, die er verfasste, gibt es immer auch eine plausible „natürliche“ Erklärung. (Jedenfalls, wenn wir Wesen aus dem Weltall oder einen rapide einsetzenden Atavismus als solche gelten lassen. Immerhin versuchte Lovecraft, so wenig wie möglich gegen die geltenden Naturgesetze zu verstossen in seinen Geschichten; bzw. dort, wo er es tat, sich die Möglichkeit eines Traums oder einer Wahnvorstellung der Hauptperson vorzubehalten.)

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