Aktuell sind auf Deutsch außer dem hier vorgestellten Essay Pourquoi je ne suis pas féministe keine weiteren Werke von Marguerite Eymery erhältlich, die sich als Autorin Rachilde nannte. Ich erlaube mir deshalb, auf die französischen Originale zurückzugreifen – mit der Nebenabsicht, dass ich damit die Hoffnung der Übersetzerin und Verlegerin Alexandra Beilharz auf ein weiteres Buch Rachildes auf Deutsch erfüllen helfen kann.
Monsieur Vénus zwar gab es vor kurzem noch bei Reclam. Unterdessen ist es dort vergriffen und offenbar ist keine Neuauflage geplant. Das hat viel mit der Zeit zu tun, in der Rachilde (wie ich sie der Einfachheit halber nennen will) gelebt und geschrieben hat, und wenig mit der literarischen Qualität ihres Werks – eine Zeit, die wir heute nur noch bedingt verstehen und deren Werke nachzuvollziehen für uns immer schwieriger wird, da sie voll sind mit oft unheimlich verklausulierten Anspielungen, die Dinge verstecken, die wir heute in aller Öffentlichkeit diskutieren, während andererseits recht explizit beschrieben wird, was wir heute eher verstecken. Weshalb wir dann Hinweise zur Interpretation wittern, wo gar keine sind.
Das Buch existiert in zwei Versionen und wenn die Angaben bei der deutschsprachigen Wikipedia darauf hindeuten, dass damals die erste Fassung übersetzt wurde, so vermeidet die bei der Buchhändlerin meines Vertrauens noch abrufbare Verlagswerbung (auf reclam.de gibt es keinen Eintrag mehr) genaue Hinweise, formuliert aber so, dass es sich bei der Übersetzung im Grunde genommen eher um die zweite Version des Romans gehandelt haben muss.
Die erste Version erschien 1884 in Brüssel. Auf dem Titelblatt war noch der heute unbekannte Francis Talman als Co-Autor angegeben, und der Roman trug den Untertitel Roman matérialiste. Rachilde erzählte, dass es Talman war, der auf sie zukam und ihr vorschlug, dass sie doch zusammen einen Roman schreiben könnten, der voller ‚Schweinereien‘ (des cochonneries) sei, da sie ja beide dringend Geld benötigten und der zu erwartende Skandal als gute Reklame dienen würde. Dem war dann auch so. Die beiden Verfassenden wurden in Belgien zu einer Geldstrafe verurteilt, der Roman konfisziert. Dennoch erschien noch im selben Jahr eine zweite Auflage, bei der offenbar die schlimmsten Verstöße gegen die guten Sitten eliminiert(?) waren.
Talman verschwand im Folgenden komplett aus der (Literatur-)Geschichte. 1889 erschien der Roman zum ersten Mal in Frankreich. Dieses Mal stand nur noch der Name Rachildes als Autorin da und auch der Untertitel des Roman matérialiste fehlte. In einem Neudruck dieser Version (2024 bei Gallimard, herausgegeben und mit einem Vorwort von Martine Reid versehen) habe ich das Buch denn auch gelesen. Die erste Auflage von 1884 ist erst 2004 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden; ich habe die beiden Versionen offen gestanden nicht verglichen. Gemäß Reid fehlen in der von mir gelesenen Version vor allem die Teile, die von Talman stammten – dazu gehörte vielleicht auch der vom ursprünglichen Untertitel reklamierte Materialismus. Er ist jedenfalls im Buch nicht aufzufinden.
Worum geht es im Roman und weshalb der Skandal? Es ist im Grunde genommen eine Liebesgeschichte, die Rachilde erzählt, aber eine einer (wie wir heute sagen würden) toxischen Beziehung. Da ist Raoule de Vénérande, eine junge Adlige, reich, Stern der großen Assembléen in Paris. Und da ist Jacques Silvert, der gerne Kunstmaler wäre, aber sein Leben damit fristet, dass er zusammen mit seiner Schwester Accessoires für die damalige Frauenmode bastelt – Papierblumen und ähnliches. In dieser Funktion trifft er auch auf Raoule, die beim ersten Treffen schon ein bisschen viel von seiner Brustbehaarung sieht und nun ein gewisses Begehren entwickelt. Es kommt, wie es kommen muss: Sie mietet ihm ein geräumiges Atelier, wo er mit seiner Schwester als Haushälterin logiert. (Die Schwester hat eine für die Handlung des Romans nicht unwichtige Stellung, die ich aber, ebenso wie die eines ehemaligen adligen Verehrers von Raoule hier nicht weiter ausführe. Ich möchte ja, dass der Roman gelesen wird.) Raoule ist von Anfang an die Aktive der beiden, nachdem sie Jacques in seine Schranken gewiesen hat, als er versuchte, ihr gegenüber die von einem Mann damals erwartete Position und Gebärden aufzuführen. Tatsächlich dreht Raoule das damals übliche Verhaltensmuster zwischen den Geschlechtern radikal um. Raoule ist es, die nachts Männerkleidung anlegt und Jacques besucht, der auch schon mal ein besticktes (also weibliches) Unterhemd trägt – auch bei ihm immer mehr männliche Haltung und Gewalt, wie man sie damals kannte, einnehmend. Zum Schluss beschließt sie gar, ihn zu heiraten, denn Liebe, wenn auch in seltsamer Form, ist bei ihr durchaus vorhanden. Als sie merkt, dass sie sich damit in der Gesellschaft lächerlich gemacht hat, treibt sie Jacques an, für einmal tatsächlich als Mann zu agieren und ihren ehemaligen Verehrer zum Duell herauszufordern, weil sie selber es nach den vom Baron nach wie vor befolgten Gepflogenheiten nicht kann. Das einzige Mal im Roman, da Jacques ein Mann im damals üblichen Sinn sein darf oder muss, endet für ihn tödlich – sein Gegner erschießt ihn. Am Ende finden wir Raoule, die sich endgültig von aller Gesellschaft zurückgezogen hat, in einem Zimmer mit einer im Bett liegenden Wachsfigur des Jacques Silvert. Diese ist mit einem speziellen Kautschuk überzogen, der die menschliche Haut fürs Auge und für den Tastsinn täuschend imitiert und den Raoule immer wieder streichelt.
Der Roman steht literaturgeschichtlich gesehen natürlich nicht im leeren Raum. Die décadence, das fin de siècle, schrieb sich kulturgeschichtlich von einem seltsamen Verständnis der deutschen Philosophen Schopenhauer und Nietzsche her und trieb in Frankreich auch andere ‚Blüten‘:
- Da ist Joris-Karl Huysmans, der im gleichen Jahr wie Rachildes Monsieur Vénus mit À rebours das Porträt eines lebensuntüchtigen Dandys lieferte und mit Là-bas 1891 (also nur zwei Jahre nach der französischen Auflage des Monsieur Vénus) einen Autor auftreten lässt, der einerseits das Leben des notorischen Frauenmörders (und Sadisten?) Gilles de Rais erforscht und andererseits dessen Spuren in der Gegenwart wiederzufinden meint in der Gestalt einer satanistischen Gemeinschaft.
- Dann haben wir Théophile Gautier, der schon 1835 in seinem Roman Mademoiselle de Maupin seinen Ich-Erzähler nach dem Schönen schlechthin suchen lässt. Er findet es endlich in der titelgebenden Gestalt, die aber nicht nur weiblich ist sondern sich auch als Mann kleidet.
- Natürlich dürfen wir auch Charles Baudelaire nicht vergessen und dessen Gedichtzyklus Les fleurs du mal von 1857, er begann, relativ explizit Sexualität vor dem Publikum auszubreiten und auch das Leben der ganz armen Pariser – inklusive der Prostituierten. Und wenn Jacques’ Schwester als seine Haushälterin definitiv in die Prostitution abgleitet – was ist Jacques selber anderes?
- Aus Les paradis artificiels von Baudelaire wird übrigens fast wörtlich die Technik des Haschisch-Konsums übernommen, dessen berauschende Wirkung inkusive.
- Alle diese Autoren bzw. Texte sind hier im Blog zu finden.
Ob Rachilde die 1870 erschienene Venus im Pelz des österreichischen Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch gekannt hat, vermag ich nicht zu sagen. Sacher-Masoch war in Frankreich ein Star, den auch welche wie Hugo oder Zola hoch schätzten. Sacher-Masochs Reise nach Paris im Jahr 1886 glich einem Triumphzug. Aber der bei beiden erscheinende Begriff Venus für die (Angst einflößende) weibliche Sexualität war in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gang und gäbe und weist nicht unbedingt auf einen Zusammenhang hin*).
Was auffällt: Sie alle – Gautier, Baudelaire, Sacher-Masoch, Huysmans und Rachilde – verurteilen ihre Protagonisten nicht. Und sie alle schreiben nicht pornografisch, auch dann nicht, wenn sie über Formen von Sexualität schreiben, die dem damaligen oder heutigen Durchschnitt pervers erscheinen mögen. Dekadent: ja – wenn man darunter das zu jener Zeit immer stärker werdende Interesse (auch wissenschaftlich, auch medizinisch) an der Sexualität und sexuell motivierten Beziehungen versteht. Auch ist zu sagen, dass der Roman der blutjungen Autorin denen ihrer prominenteren männlichen Kollegen in keiner Weise nachsteht. Wer sich also für solche Romane an der Schwelle vom Naturalismus zum Impressionismus, mit ein wenig Dekadenz gewürzt, begeistern kann, ist mit Rachildes Monsieur Vénus gut bedient. Ein wenig Gruselroman gibt es noch obendrein.
*) Auch die Bezeichnung Sappho für eine weibliche Homosexuelle war kurrent. Und wenn wir uns an die durch Otto Weininger berühmt gewordene (aber nicht von ihm erfundene) These erinnern, dass jedes menschliche Wesen aus einem bestimmten Prozentsatz Männlichkeit und dem zu 100 % ergänzenden Anteil Weiblichkeit besteht, wobei das äußerliche Aussehen nur bedingt diese Aufteilung widerspiegelt, weil ein homosexueller Mann zum Beispiel ‚innerlich‘ einen Anteil von 50 % oder mehr an Weiblichkeit aufweist – wenn wir uns also in diese in jenen Zeiten kursierende These erinnern, wird es nicht erstaunen, dass die Hosen tragende und in der Partnerschaft dominant auftretende Raoule ebenfalls mit dem Attribut einer Sappho versehen ist.
Meine Ausgabe:
Rachilde: Monsieur Vénus. Suivi de Madame Adonis. Edition présentée, établie et annotée par Martine Reid. Paris: Gallimard, 2024. (= folio classique, 7319)
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