Tacitus Redivivus: Die große Trommel

Weiße Schrift auf rotem Hintergrund: »1930 erschienen und nun erstmals wieder zugänglich gemacht, zeigt diese Satire über Hitler auf frappierende Weise, was alle Zeitgenossen damals hätten erkennen können.« Der Text steht auf der Umschlagsbanderole und stammt aus einer Buchbesprechnung von Sven Felix Kellerhoff, die in der "WELT" erschienen ist.

Tacitus Redivivus war eines der Pseudonyme des deutschen Schriftstellers und Journalisten Max Hochdorf. Warum er ausgerechnet Tacitus als Vorbild wählte, wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben. Vielleicht war es, weil er ebenfalls, wie Tacitus, an Hand der Geschichte auch die Gegenwart erklären wollte. Untersuchungen zur Wahl seiner Pseudonyme habe ich keine gefunden.

Seine, Hochdorfs, Gegenwart war nun die Weimarer Republik des Jahres 1930. Gerade hatten vorgezogene Reichstagswahlen stattgefunden, bei denen die NSDAP plötzlich ein mehrfaches des bisherigen Wähleranteils erhielt und zur zweitstärksten Partei nach den Sozialdemokraten aufstieg. (Diese Wahlen wären, nebenbei, gar nicht nötig gewesen, wenn sich die zerstrittenen Parteien der Regierung irgendwie hätten einigen können. Der Reichstag hätte erst 1932 neu gewählt werden müssen; zu diesem Zeitpunkt war die Weltwirtschaftskrise bereits am Abflauen begriffen, und dann hätte die extremistische NDSAP wohl weniger Erfolg gehabt. So kam es aber, wie Hochdorf-Tacitus feststellte, dazu, dass im Reichstag über hundert neue Männer Einzug hielten, die vorher noch nie in einem Parlament gesessen hatten und dazu noch einer Partei angehörten, deren im Parteiprogramm erklärtes Ziel die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie war.)

Diese NSDAP und vor allem ihren Führer, Adolf Hitler, zu analysieren, war Die große Trommel geschrieben worden. Das Buch erregte damals leider keinerlei Aufsehen, von wenigen – gut versteckten – Rezensionen abgesehen. Daran war wohl nicht zuletzt die Veröffentlichung unter Pseudonym in einem Schweizer Verlag schuld. Hochdorf, selber Sozialdemokrat, konnte sogar bei seinen Parteikollegen schlecht Werbung dafür machen, ohne sein Pseudonym aufzudecken. Auch die spätere Forschung zu Hitler, Joachim Fest inklusive, scheint das Buch nicht gekannt zu haben. Erst letztes Jahr (2022) ist es bei wgbTheiss neu aufgelegt worden.

Die Kritik des 21. Jahrhunderts sprach denn auch von einem hellsichtigen Buch. Tatsächlich hat Hochdorf so einiges vorher gesehen und ein ungeheuer treffendes Psychogramm Hitlers gegeben. Dazu brauchte er keine Hellseherei. Er las ganz einfach, was Hitler und die NSDAP bereits veröffentlicht hatten – vor allem natürlich Hitlers Selbstdarstellung Mein Kampf und das von vom Chef persönlich autorisierte Parteiprogramm der NSDAP1).

Das erste und wichtigste, das er darin fand, war Hitlers krude These, dass ein jedes Volk immer größer werden würde und deshalb immer mehr Platz brauche. Da Hitler Kolonien für seine Expansionspläne nicht in Betracht zog, musste das deutsche Volk diesen Platz in Europa kriegen. Zusätzlich zum Platz für die landwirtschaftliche Versorgung, so Hitler, müsste noch ein Sicherheitskordon an der Grenze existieren. Denn die Nachbarvölker würden ja auch mehr Platz brauchen. Sich diesen Platz zu verschaffen, bedeutete also unweigerlich Krieg zwischen den Nachbarn. Hitler machte es in Mein Kampf mehr als deutlich, dass das deutsche Volk diesen neuen Raum zuerst im Osten suchen würde. (Sein auch sonst bewundertes Vorbild darin war natürlich das alte Preußen.)

Dass Hitler also, wenn er an die Macht käme, einen weiteren Weltkrieg anzetteln würde, stand für Hochdorf außer Frage. Ebenfalls hielt Hochdorf ganz klar fest, was Hitler von der Diplomatie hielt: nämlich nichts. Nur, dass Deutschland, so lange seine militärische Schlagkraft nicht ausreichend war, sich natürlich der Diplomatie bedienen müsse, um seine Gegner zu täuschen, bis es endlich zuschlagen könnte. Hätten Chamberlain oder einer seiner Leute Mein Kampf gelesen (oder auch nur Die große Trommel): Er hätte sich 1938 nicht mit der Phrase Peace for our Time! blamiert.

Ja, es stand alles da. Und Tacitus Redivivus hat so einiges erkannt. Nicht alles, er war kein Übermensch. Er las zwar (und informierte in seinem Buch auch darüber), dass Hitler irgendwie das deutsche Volk von der Verjudung befreien wolle, ahnte aber nicht, wie konsequent Hitler hier vorgehen würde. Bestenfalls, so glaubte er, würden alle nach 1914 in Deutschland eingewanderten Juden des Landes verwiesen. Dass Hitler bei der Ausmerzung der Verjudung gleich zur logisch einfachsten, wenn auch radikalsten Lösung, nämlich der Ausmerzung aller Juden, greifen würde, konnte selbst Tacitus Redivivus nicht vorhersehen.

Die Quellen des Antisemitismus, der sich bei Hitler so rasant entwickeln würde, sah Hochdorf in dessen Aufenthalt in Wien, wo der arbeitslose Handwerker einerseits reiche Juden promenieren sah und andererseits in den ärmeren Vierteln, wo er lebte, die ebenfalls armen Ostjuden im Kaftan. Sein ganzes Leben lang würde Hitler die Verjudung sowohl beim Großkapital festmachen wie beim Bolschewismus. Das ist, wie Hochdorf festhält, genau so zwiespältig, wie Hitlers Aussagen zum Begriff ‚Sozialismus‘ im Wort ‚Nationalsozialismus‘, wo es von Hitler beide Aussagen gibt: Sowohl die, dass selbstverständlich zumindest ein Teil des Kapitals von den Reichen zu den Armen umverteilt würde, wie die, dass die bestehenden Besitzverhältnisse selbstverständlich nicht angetastet würden. Hitler, muss Tacitus feststellen, ist ein reiner Stimmungsmensch.

Neben der Unterschätzung von Hitlers Ideen zur Lösung der Judenfrage finden wir auch noch weitere Kleinigkeiten, in denen Hochdorf Hitler falsch beurteilt. Natürlich hatte er für seine Nachforschungen nur wenig Zeit, aber er verließ sich manchmal in biografischen Details allzu sehr auf Hitlers eigene Angaben in Mein Kampf. So glaubte er ihm die Mär vom Handwerker, der arbeitslos und arm ist, weil er den verjudeten Gewerkschaften kein Geld in den Rachen stopfen will – während Hitler in Tat und Wahrheit einer jener arbeitsscheuen Herumtreiber ohne Ausbildung war, die die heutigen Rechtsextremen so gerne und so schnell wie möglich des Landes verweisen würden (was in Hitlers Fall nicht möglich war, er war Österreicher). Auch war Hitler weder Handwerker noch war er zu Beginn seines Aufenthalts in Wien ganz arm: Nach dem Tod seiner Mutter erbte er ein kleines Vermögen, das ihn eine Zeitlang über Wasser hielt. Dass er danach nach München zog, weil er in Deutschland näher am Deutschen Volk war (wie Hochdorf aus Mein Kampf referiert), stimmt ebenfalls nicht: Hitler wollte am Vorabend des Ersten Weltkriegs vor der militärischen Dienstpflicht in Kakanien fliehen. Dass er sich dann bei Kriegsausbruch doch in Bayern zum Dienst meldete, war wohl wieder einmal ein Ausdruck einer momentanen Stimmung. Dass er dann an der Front gedient habe, und gar zum Offizier befördert wurde, glaubt ihm Hochdorf ebenfalls, obwohl es schon in den 1920ern Stimmen gab, die das anzweifelten. Es passte halt gut in das Psychogramm des jungen (Tot-)Schlägers, das Hochdorf zeichnete, aber in Tat und Wahrheit war Hitler Meldeläufer zwischen Kommandostellen, die doch etwas entfernt von der eigentlichen Front standen. Ebenso falsch ist die von Hitler selber verbreitete Geschichte, dass er sich noch lange nur als Die große Trommel sah, den PR-Mann der nationalsozialistischen Bewegung. Schon 1921 war es ganz klar, dass er – und nur er! – das Sagen haben wollte. Seine – selbständig antrainierten – Fähigkeiten als Redner halfen ihm dabei ungemein.

Dann ist da noch der italienische Diktator Benito Mussolini. Zu jener Zeit erklärtes Vorbild von Hitler, kann sich doch auch Hochdorf der Faszination nicht ganz entziehen, die der italienische Faschist auf viele linke Intellektuelle in Deutschland ausübte. Jedenfalls hält auch Hochdorf dessen Wirtschaftspläne für bedeutend gesunder als die Hitlers.

Dass Hitler seinen von Anfang an zum Scheitern verurteilten Putsch gerade am 8. und 9. November 1923 durchführte, führt Hochdorf – und ich glaube: zu Recht – darauf zurück, dass er die Erinnerung an den 9. November 1918 auslöschen wollte, der das eigentliche Geburtsdatum der Weimarer Republik war und verbunden mit einer sozialistischen Arbeiterrevolution, die (halbwegs) Erfolg hatte. Der Putsch mag missglückt sein, aber die Erinnerung an den 9. November 1918 auszulöschen, ist Hitler dennoch gelungen. Bis heute überstrahlen die Taten der Nationalsozialisten zu diesem Datum alle anderen Ereignisse: den Geburtstag der Weimarer Republik ebenso wie den Fall der Mauer. (Mind you: Ich finde es sehr wichtig, sich der Gräueltaten der Nazis bewusst zu bleiben – aber nur zu schreien: „Ich gedenke!“, um dann wieder zur Tagesordnung überzugehen und bei der nächsten Wahl selber rechtsextrem zu wählen, ist ja auch nicht die Lösung der aktuellen Probleme. Tatsächlich scheint mir die Situation in der BRD heute viel ähnlicher der der Weimarer Republik im Jahre 1930, wo ebenfalls persönliche oder parteipolitische Ambitionen Vorrang hatten vor der wirklichen Lösung von Problemen – was damals wie heute genau jene rechtsextremen Protestparteien beflügelt, die man fernhalten will. Und darin spiegelt Hochdorf die heutige Situation, als er der Meinung Ausdruck gibt, dass dann letzten Endes die übrigen Parteien und Politiker doch klug genug sein würden, Hitler nicht an die Macht kommen zu lassen – vielleicht die größte Fehleinschätzung unseres Taticutus Redivivus.)

Fazit: Trotz manchmal mangelhaft recherchierter Details haben wir hier ein wichtiges und bis heute – gerade heute! – lesenswertes Buch vor uns. Allerdings – da muss ich Sven Felix Kellerhöff, den Urheber des Zitats im Beitragsbild (ein Satz aus einer Rezension in der WELT) korrigieren: Eine Satire ist das hier nicht.

Das Buch ist in folgender Neuauflage erhältlich:

Tacitus Redivivus: Die große Trommel. Leben, Kampf und Traumlallen Adolf Hitlers. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Sven Felix Kellerhoff. Darmstadt: wgbTheiss, 2022. [Den Begriff Traumlallen, nebenbei, hat Hochdorf einer recht verquasten nationalsozialistischen Huldigungsschrift an Hitler entnommen, die er ebenfalls ausgewertet hat.]


1) Hochdorf war wohl einer der wenigen, der Mein Kampf wirklich von A-Z durchgelesen hatte – allerdings nicht der einzige, wie der etwas anders gelagerte Fall von Richard Katz zeigt. Dieser hielt sich gerade auf einer Insel im Südchinesischen Meer auf, wo er vor der Hitze ins Gebirge geflohen war, als die wöchentlich ankommende Post ihm eine Zeitung aus Berlin brachte (der Journalist Katz konnte auch auf seiner Weltreise die Zeitungen so wenig vernachlässigen wie die heutigen Influencer im Urlaub ihr Instagramm). Es war 1933 und Katz las, dass Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war. Gleich trieb Katz ein Reittier auf und begab sich ins Telegrafenamt der Hafenstadt. Dort beauftragte er seine deutsche Bank, sein gesamtes Vermögen sofort auf sein Schweizer Konto zu transferieren. Diese Reaktion, so Katz in seiner Autobiografie Gruß aus der Hängematte, verdankte sich ebenfalls seiner genauen und vollständigen Lektüre von Mein Kampf. (Und sie würde Katz, im Gegensatz zu so vielen anderen, Hochdorf inklusive, auch im Exil ein zumindest finanziell komfortables Leben erlauben, mit einem Häuschen im Tessin – zugegeben damals noch fernab von den bereits existierenden Touristenströmen – sowie später, unter Beibehaltung des Tessiner Hauses, auch eines in Brasilien.)

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