Annette, mit bürgerlichem Namen Anne Beaumanoir, heißt die Heldin des vorliegenden Heldinnenepos. Es gibt sie also wirklich; sie ist 1923 in der Bretagne zur Welt gekommen und fährt unseres Wissens noch heute mit dem Auto durch Frankreich, auf dem Weg zu Vorträgen und Seminaren, aber natürlich auch zum Besuch von Freunden und Verwandten. Sie ist auch eine wirkliche Heldin. Mit 19 tritt sie der Kommunistischen Partei bei – das alleine wäre vielleicht noch keine Heldinnentat, aber sie arbeitet nun auch für die Résistance, den französischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Mit 21 rettet sie – gegen den Willen von Partei wie Résistance – zwei jüdische Kinder vor den deutschen Suchtrupps. (1996 wird sie dafür als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.) Deren Moskau-Hörigkeit vertreibt sie 1956 aus der Kommunistischen Partei. Obwohl selber Atheistin, kommt sie nun in Marseille über Arbeiterpriester in Kontakt mit dort lebenden Algeriern. Sie ergreift Partei für die algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) und unterstützt deren Operationen im Mutterland Frankreich. Sie wird verhaftet und entzieht sich einer 10-jährigen Gefängnisstrafe durch eine Flucht, die sie schließlich ins gerade befreite Algerien bringt, wo sie beim Aufbau des nationalen Gesundheitswesens unter Ben Bella mitarbeitet. Nach dessen Sturz muss sie noch einmal fliehen. In ihrer Heimat noch immer auf den Fahndungslisten, aber offenbar nicht international ausgeschrieben, verbringt sie die Zeit bis zu ihrer Pensionierung als Leiterin einer Klinik in Genf. Unterdessen amnestiert, lebt sie, wie gesagt, heute wieder in Frankreich. Ganz nebenbei hat sie Medizin studiert, sich als Neurologin / Neurophysiologin einen Namen gemacht und drei Kinder zur Welt gebracht.
So weit ganz kurz zur Person der Anne Beaumanoir. Wer mehr über sie wissen will, kann dies bei Wikipedia nachlesen, wer noch mehr zu wissen wünscht, den kann ich auf ihre zweibändige Autobiografie verweisen, die 2019 und 2020 unter dem Übertitel Wir wollten das Leben ändern bei der Edition Contra-Bass in Hamburg erschienen ist. Oder eben auf dieses Buch hier. Anne Weber hat sich beim Schreiben ihres Heldinnenepos neben direkten Gesprächen mit Anne Beaumanoir ebenfalls auf die Autobiografie abgestützt. Wikipedia offenbar auch; jedenfalls weichen Weber und Wikipedia bei den rein sachlichen Informationen nicht von einander ab.
Wozu also brauchte es dieses Heldinnenepos? Anne Weber, Übersetzerin und Schriftstellerin, die in Paris lebt, hat es 2020 gleichzeitig in Frankreich (bei Le Seuil) und in Berlin bei Matthes & Seitz herausgebracht. In Frankreich ist Beaumanoir recht bekannt; im deutschen Sprachraum kannte man sie wohl kaum vor diesem Buch, bzw. der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2020 an die Autorin.
Weshalb also dieses Buch? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Es ist sicher an und für sich ein Verdienst, Frauen vorzustellen, die sich als Heldinnen bewährten. Anne Beaumanoir ist kein ‚Held‘ im klassischen Sinn: Sie hat weder bei der Résistance noch beim FLN mit der Waffe gekämpft, sondern als Kurierin, Briefträgerin und Fahrerin geamtet. Die Gefahren waren für sie aber dieselben wie für einen bewaffneten Kämpfer. Die Gegner – ob es nun die Deutschen waren oder später die Franzosen selber – würden erst schießen und dann fragen, ob das Gegenüber überhaupt bewaffnet war. Nicht zu sprechen davon, was geschehen wäre, falls sie lebendig in deren Hände gefallen wäre. Selbst die Franzosen, die sie in den 1950ern festnahmen, schreckten vor Folter nicht zurück, auch wenn sie sie im Normalfall gegenüber Frauen und nun gar Landsmänninnen nicht anwandten. Doch ein paar Schläge musste auch Anne Beaumanior einstecken – vor allem aber wurde sie vor dem ‚großen Publikum‘ verleumdet, indem die französische Propaganda ihren Einsatz gegen den Kolonialismus als einen Dienst aus sexueller Hörigkeit zu ihrem algerischen Vorgesetzten im FLN hinstellte. (Ja, das Vorurteil, dass die ‚Primitiven‘ besser bestückt seien und deshalb Frauen im Dutzend hörig machen könnten …)
An und für sich also ein Verdienst, auch heldinnenhafte Frauen vorzustellen – keine Frage. Man hätte aber dafür wohl auch einfach nur Anne Beaumanoirs Autobiografie bewerben können – immerhin ist sie in Frankreich eine recht bekannte Figur, könnte also schon deswegen Interesse erregen. Warum also einen biografischen Roman, der in den Fakten ziemlich sicher der Autobiografie eng folgt?
Sachlich also wenig oder nichts Neues. Formal aber soll das Buch – wenn man den KritikerInnen glauben will – anders sein als andere Biografien. Denn es handelt sich gemäß Titel um ein Epos. Dieser Begriff will offenbar im ganz klassischen Sinn verstanden werden – ein Heldenepos, wie es (nur halt mit Männern als Protagonisten) Antike und Mittelalter zuhauf fabriziert haben. So richtig mit allem – vor allem mit Vers. Nicht mit Reim, das wird gern verwechselt – das klassische Epos kennt nur Vers (also Maß und Rhythmus), aber keinen Endreim und nur selten Stabreim. Und so kommt es, dass nun praktisch alle Kritiken, die ich gelesen habe, vom Vers dieses Epos hier schreiben, wenn nicht gar schwärmen.
Nur … ganz ehrlich: Da ist keiner – oder allenfalls einmal ein zufälliger. Anne Webers Sprache ist flüssig, ja süffig, zu lesen, ohne deswegen simpel zu sein. Das ja. Es handelt sich aber immer um Prosa – anders wären die manchmal doch komplexeren Satzkonstruktionen Anne Webers gar nicht möglich. Mir will scheinen, dass irgendwann einmal eine Kritik von den Versen dieses Epos redete, und die folgenden KritikerInnen sich nicht trauten, dem zu widersprechen, aus Angst, ihre sprachlich-literarisch-kritische Kompetenz aufs Spiel zu setzen. H. C. Andersen hat so einen Vorgang in seinem Kunstmärchen Des Kaisers neue Kleider ja wunderhübsch beschrieben. Ein Epos in neuen alten Kleidern – wie schön! Wenn wir den Umbruch nach jeder Zeile, der zusammen mit dem verwendeten Flattersatz suggeriert, dass wir Verse wie in alten Epen vor uns haben, entfernen, haben wir ganz normale Prosa vor uns. Den Vergleich mit H. C. Andersens Märchen möchte ich aber gleich wieder zurück ziehen – ich möchte mich nicht mit dem unschuldigen Kindlein auf die gleiche Stufe stellen, das bei ihm den Betrug aufdeckt. Außerdem – Ehre, wem Ehre gebührt, auch wenn ich den Namen leider wieder vergessen habe – habe ich bereits, bevor ich das Buch in Händen hatte (wenn auch schon in Leseproben geblättert), den Ausruf „Das ist ja Prosa!“ auf Twitter von einer Bloggerin (?) gelesen. Vergessen wir es also – wer es für Verse halten will, mag es tun. Hauptsache, das Leben und die Taten der Anne Beaumanoir werden auch im deutschen Sprachraum ein wenig bekannter.
Eine Unsitte muss ich Anne Weber allerdings noch vorhalten – umso mehr, als ich weiß, dass ich oft in die gleiche Haltung verfalle. Es ist die – leider mehr als nur selten – vorkommende Unsitte, Wort- oder Sacherklärungen vermeintlich witzig zu verkleiden, die letzten Endes aber nur suggeriert, das die AutorInnen ihre Leserschaft nicht ganz ernst nehmen. Ein Beispiel:
Sowieso sehnt sie sich nach ernsthafteren Taten und hat längst begonnen, in Richtung PC zu schielen. Das ist weder der personal computer noch die political correctness, die er heute meint, sondern eine Partei, die seit September 39 verboten ist.
(S. 27)
Gemeint ist, was Weber dann doch nicht sagt, der Parti Communiste – die französische kommunistische Partei, der Beaumanoir kurze Zeit darauf beitreten wird. Im übrigen habe ich in obigem Zitat die Zeilenumbrüche des Originals weggelassen. Wer mag, darf die Verse rekonstruieren.
Last but not least: Ja, wir haben eine Heldin vor uns. Ich bin aber versucht, zu sagen, dass es eine ‚Bauchheldin‘ ist. Was ich meine: Anne Beaumanoir agiert oder reagiert fast immer aus dem Bauch heraus. Vertrauen oder Misstrauen, kommunistische Partei oder nicht mehr kommunistische Partei, Résistance oder Kollaboration, Kolonialismus oder Freiheitskampf – sie scheint in diesem Epos immer aus dem Bauch heraus für das eine und / oder gegen das andere zu entscheiden. Das ist durchaus realistisch, aber Beaumanoir muss auch eine sehr rationale Seite gehabt haben – ohne diese kann sich niemand in medizinisch-klinischer Forschung etablieren oder gar eine Klinik leiten, wie sie es getan hat. Dieser ganze Teil wird – zusammen mit ihrem ganzen Leben nach der Flucht aus Algerien – mit wenigen, dürren Worten gestreift. Dabei umfassen dieser Teil und der daran anschließende politisch-agitatorische der Rentnerin mehr als die Hälfte des Lebens dieser bemerkenswerten Frau. (Wenn wir die Kindheit noch in Abzug bringen, die allenfalls interessant ist durch die mehr oder weniger pädagogischen Stubser, die das spätere Leben in eine bestimmte Richtung weisen, so sind es fast drei Viertel ihres bewussten und selbstbestimmten Lebens, über das wir kaum etwas erfahren.) Damit ist mir in diesem Buch das Heldinnenhafte doch zu sehr nach klassischem (männlichem!) Vorbild geraten. Heldin im Ruhestand (oder, um den alten Witz aufzuwärmen, der bei Anne Beaumanoir aber zutrifft: im Unruhezustand) – auch dieser Teil hätte meiner Meinung nach dazu gehört. (Weber – und Wikipedia – folgen offenbar auch hierin der Autobiografie, die nur die Jahre 1923 bis 1965 abdeckt.)
Das waren auch die Jahre des Existenzialismus; und Anne Beaumanoir soll auch und gerade durch die Lektüre von Malraux zur Trotzkistin und damit zu einem Mitglied der Kommunistischen Partei geworden sein. Das mag so seine Richtigkeit haben, aber obwohl Weber am Schluss ihres Epos auf Camus verweist und den Schluss von dessen Mythos von Sisyphos auch als Resumé von Beaumanoirs Leben gelten lassen will (Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.), kann sie das Gefühl, das hinter Malraux, Sartre oder Camus steht, nicht auf die Leserschaft übertragen. Der Existenzialismus als nicht so sehr philosophische, sondern als gelebte Philosophie, zeigt damit die Schwäche von Webers Heldinnenepos auf. Dieses Lebensgefühl kann die Autorin nicht vermitteln. Weber begegnet nicht nur ihrer Leserschaft immer wieder mit Ironie, sie erstreckt diese auf auf ihre Heldin. Das schafft eine Distanz, die bei den Lesenden als kühle Zurückhaltung ankommt. Mit anderen Worten: Weber schafft es nicht – was doch wohl Ziel eines biografischen Romans sein sollte – genuines Interesse an der ‚biografierten‘ Person zu wecken, weil sie den Eindruck hinterlässt, selber nicht genuin an ihrer Protagonistin interessiert zu sein. Das ist schade.
Fazit: Das Buch liest sich trotz allem süffig; Anne Beaumanoir ist eine interessante Persönlichkeit, auch wenn das Interesse der Leserschaft eher als Reaktion gegen und nicht auf den Text geweckt wird. Das angepriesene formale Experiment eines modernen Epos entpuppt sich leider als warme Luft. Alles in allem ist der Roman leicht und rasch gelesen. Für ein ‚Buchpreis-Buch‘ etwas zu leicht und zu rasch – ich vermute, dass bei der Verleihung des Preises der Umstand, dass hier eine Frau über eine andere Frau als Heldin schreibt, für einen emanzipatorischen Bonus gesorgt hat, der den Text zum Sieg führte. Ich bereue die mit der Lektüre verbrachte Zeit zwar nicht, würde aber den Text jetzt nicht zur ganz großen und wichtigen Literatur des 21. Jahrhunderts zählen. (Aber – was gehört dazu? Das abschließend zu entscheiden, ist es sowieso zu früh.)
Gelesen in folgender Ausgabe:
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Berlin: Matthes & Seitz, 2020 – in einer Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg vom selben Jahr