Zwei einander fremde Menschen besuchen ihre Angehörigen in einem Sicherheitsgefängnis auf einer Insel: Luisa, eine toskanische Bäuerin, deren gewalttätiger und jähzorniger Mann dort wegen Mordes inhaftiert ist und Paolo, pernsionierter Gymnasiallehrer für Philosophie, dessen Sohn ein Mitglied der „Roten Brigaden“ war (was aber explizit im Roman nie ausgesprochen wird) und der ebenfalls wegen mehrerer Morde zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. In kurzen Rückblicken wird das Leben der beiden geschildert, das einer Frau, deren Dasein aus Gewalt, Arbeit und Kinderkriegen bestand und die bürgerliche Idylle Paolos, dessen Sohn sich einer verqueren Sicht von Gerechtigkeit und damit der Revolution verschrieben hat. Beide sind nach den Schicksalsschlägen vereinsamt, Paolos Frau starb bald nach der Verurteilung des Sohnes, Luisa widmet ihr Leben den fünf Kindern, der harten Arbeit auf ihrem Hof. Durch einen Unfall versäumen beide das abgehende Fährschiff, werden vom Strafvollzugsbeamten Nitti Pierfrancesco (der dritten Hauptperson des Buches, ein Mann, der am Gefängnisalltag, der ständigen Gewalt, der er ausgesetzt ist und die er auszuüben gezwungen wird, zu zerbrechen droht) in einem abgelegenen Haus untergebracht.
Zum ersten Mal sprechen Luisa und Paolo über ihre zerstörten Leben, können sich ein klein wenig öffnen, ihr Unverständnis angesichts einer unverständlichen Welt vorsichtig artikulieren. Und finden auf der Rückfahrt zueinander, überwinden die Scheu vor allzu großer Nähe und genießen ein kurzes Glück. Für alle Protagonisten ist diese kurze Zeit des erzwungenen Zusammenseins ein kleiner, zaghafter Neubeginn, sie gewinnen eine wenig Lebensfreude, Hoffnung für eine ungewisse Zukunft.
Der Roman ist routiniert geschrieben, besticht durch einige eindrucksvolle Szenen (etwa die Verzweiflung des Vaters über die hohlen, revolutionären Phrasen des Sohnes, die jede Unterhaltung, Diskussion verunmöglichen), bleibt aber ein wenig zu sehr an der Oberfläche; Melandri, die Drehbücher verfasst hat, ist diese Herkunft aus einem Bereich, in dem ständig etwas passieren muss, stark anzumerken. In vielen Szenen würde man sich mehr Tiefgang wünschen als die bloß skizzenhafte Darstellung, sowohl die Entwicklung des Sohnes als auch des gewalttätigen Ehemannes bleiben holzschnittartig, immer wieder wird dort abgebrochen, wo man sich endlich ein „mehr“, eine intensivere Auseinandersetzung mit Geschehen und Personen wünschen würde. Auch der „brave“, gerundete Abschluss fällt entsprechend aus: Auf wenigen Seiten erfährt man vom weiteren Schicksal der Protagonisten 30 Jahre später, ihren Wandlungen oder ihrem Tod. Das Buch liest sich leicht, insgesamt aber entsteht der Eindruck von vergebenen Chancen: Aus all dem hätte man viel mehr, viel Eindrucksvolleres machen können. Trotzdem eine Lektüre wert. (Ein Wort zum Korrektorat – sofern es ein solches gegeben haben sollte: Diese Unzahl von Fehlern ist schlicht eine Frechheit; ich meine mich erinnern zu können, dass ich das bei dem vorstehenden Verlag schon mal moniert habe.)
Francesca Melandri: Über Meereshöhe. München: Karl Blessing 2012.