Alain Claude Sulzer (Hrsg.): Haydn!

Auf einem links und oben gelben, rechts und unten grünen Hintergrund steht in Schwarz der Kleinbuchstabe ‚n‘. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Um Sinn und Zweck des vorliegenden Buchs zu verstehen, empfiehlt es sich, die Nachbemerkung des Herausgebers Alain Claude Sulzer ganz am Schluss des Buchs als erstes zu lesen. Unter dem Titel Viel über Haydn schildert er dort nämlich die Entstehungsgeschichte des Buchs. Ich halte ein Wissen um diese für unumgänglich, ansonsten steht man nämlich ziemlich verblüfft vor einigen der in dieser Anthologie enthaltenen Texte. Das Buch ist Teil (vielleicht besser: Ausfluss) eines großangelegten Projekts in Sachen Haydn. Dieser wurde am 1. April 1732 geboren. Seine Geburt jährt sich demnach im Jahr 2032 zum 300. Mal. Zu diesem Anlass wurde schon jetzt ein Projekt namens Haydn2032 ins Leben gerufen – in Basel, nicht etwa in Wien, Eisenstadt oder Fertőd (letzteres der Ort, in dessen Nähe das Schloss der Fürsten Esterházy liegt, in dem Haydn die Jahre 1769 bis 1790 als Kapellmeister im Rang eines Hausoffiziers lebte und arbeitete). Dieses Projekt will nichts Geringeres als bis zum runden Geburtstag Haydns sämtliche Sinfonien des Geburtstagskinds einspielen, und zwar folgendermaßen – ich zitiere die Homepage des Projekts:

Die Joseph Haydn Stiftung Basel organisiert, produziert und finanziert mit dem Projekt Haydn2032 zu Joseph Haydns 300. Geburtstag im Jahr 2032 die Aufführung und Aufnahme aller 107 Sinfonien des Komponisten mit den Orchestern Il Giardino Armonico und Kammerorchester Basel unter der künstlerischen Leitung von Giovanni Antonini, einem der angesehensten Spezialisten für barocke, frühklassische und klassische Musik. Die eingespielten Aufnahmen erscheinen als CD und als luxuriöse Vinyl-Sammleredition in Buchform. Zu jedem Projekt wird eine Fotoreihe der besten Fotografen unserer Zeit als Bilderzyklus zum Themenkomplex ausgewählt. Zeitgenössische Schriftsteller umrahmen das Projekt mit einem Essay, der in Zusammenhang zum Programmthema steht.

Und was wir hier vor uns haben, ist letzteres – jedenfalls, so weit es bisher erschienen ist. Denn offenbar kam die Idee auf, dass man diese Essays auch unabhängig von der Sinfonie, zu der sie (theoretisch) geschrieben wurden, sammeln und als Buch veröffentlichen könnte. Allerdings sind keine Fotografien enthalten; ob diese allenfalls separat herausgegeben werden oder in der teureren Version (s.u.) enthalten sind, habe ich nicht herausgefunden.

Es finden sich in diesem Buch nun 17 „Essays“ – ich erkläre gleich, warum ich die Anführungszeichen setze – eingeordnet in sechs Großkapitel. Die Einteilung ist nicht sehr systematisch, so wenig wie die Thematik der Großkapitel. Kein Wunder, sind doch die „Essays“ unabhängig von einander geschrieben worden. Hier die Titel der Großkapitel:

  • I Die Macht der Musik
  • II Ordnung und Widerspruch
  • III Verbindungen
  • IV Diener, Herren, Originale
  • V Ein Haydnisches Durcheinander
  • VI Anfang und Ende

Vor jedem „Essay“ steht eine Seite mit Drei Fragen an … [hier folgt der Name der jeweils schreibenden Person]. Die Fragen sind immer die gleichen:

  • Haben Sie ein Lieblingswerk von Haydn – und wenn ja, welches?
  • Wenn Sie Joseph Haydn begegnen könnten, was würden Sie ihm gerne sagen?
  • Einer der berühmtesten Aussprüche Haydns lautet bekanntlich: »Meine Sprache versteht man durch die ganze Welt.« Was bedeutet für Sie als Schriftsteller[in] die »Sprache« der Musik im Vergleich zur Wort-Sprache?

Die drei Mal siebzehn Antworten, die wir erhalten, sind selten genial, öfters banal und meistens irgendwo dazwischen. Was für die Antworten gilt, ist a fortiori auch für die eigentlichen „Essays“ wahr. Zum einen sind die wenigsten welche im Sinn einer kurzen Abhandlung über ein eher theoretisches Thema, wenn auch kurz und nicht unbedingt in die Tiefe gehend. Viele sind literarisch-poetische Gedanken zu einem bestimmten Moment in Haydns Leben. (Tatsächlich müssen wir diese Anthologie eher als (Roman-)Biografie betrachten denn als eigentliche, nun gar musikologische, Einführung in Haydns Werk.) Diese Texte sind manchmal besser, manchmal schlechter. Einige davon, vor allem von denen, die sich mit Haydns Sterben bzw. Tod befassen, sind durchaus gelungen – so, wenn Franz Hohler den Sterbenden in einer Kutsche durch die Jahrhunderte reisen und ihn gar bei einem Fußballspiel seine Kaiserhymne als Nationalhymne beim Einmarsch der deutschen Mannschaft hören lässt, was den Komponisten dann doch einigermaßen verstört. Während aber sein Tod zu ein paar der besseren „Essays“ Anlass gibt, so wird die Anekdote vom Diebstahl seines Kopfes, damit Gall ihn vermessen konnte, recht lieblos abgehandelt. Und weshalb ein Autor einen Umweg über die ägyptischen Pyramiden genommen hat, will sich mir auch nicht so recht erschließen.

Noch schlimmer sind aber jene „Essays“, die sich kaum mit Haydn beschäftigen sondern vorwiegend mit der schreibenden Person selber. Nicht etwa, um den Eindruck zu schildern, den diese oder jene Sinfonie bei den Schreibenden hinterlassen hat – darüber ließe sich diskutieren. Nein, die Möglichkeit, zu Haydn etwas zu schreiben bzw. zu veröffentlichen wird schamlos dazu missbraucht – die eigene Biografie in den Vordergrund zu stellen. Am schlimmsten ist das leider – und deswegen legte ich oben so viel Wert darauf, dass man dieses Buch hinten zu lesen beginnen sollte – gleich im ersten Text. Die in New York lebende australische Autorin Lily Brett beginnt ihren „Essay“ damit, von der eigenen schriftstellerischen Laufbahn als Rockjournalistin zu berichten und davon, wie nett viele der interviewten Stars zu ihr waren (nein, nicht was Ihr jetzt denkt – wirklich einfach nur nett). Später gibt Brett zu:

Ich habe keinen der Musiker nach seiner Musik gefragt. Auf diesen Gedanken kam ich gar nicht. Die Musik interessierte mich zweifellos nicht.

Auch die klassische Musik allerdings scheint sie nicht zu interessieren. Aber im Schreiben, meint sie, habe sie sich verlieren können … Um ein Haar hätte ich das Buch zugeklappt und weggeworfen. Dieses egozentrische TikTokerInnen-Gehabe, wo die Content-Creators glauben, etwas zu erzählen, wenn sie von sich erzählen, ist zwar sehr en vogue und wurde vielleicht vom Herausgeber sogar absichtlich an den Anfang der Anthologie gestellt, um ein junges Publikum anzuziehen, geht mir aber, vor allem, wenn ich wie hier Sachtexte erwarte, im höchsten Grad auf die Nerven.

Nora Gomringer wiederum, immerhin Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises im Jahr 2015, findet es offenbar „cool“, wenn sie ein Treffen Haydns mit Mozart folgendermaßen beschreibt:

Ein Buddy-System gab es da und ein Anerkennen gegenseitiger Größe. Ein von zwei Gipfeln einander zugerufenes Gespräch aus Huldigungen. Die zwei Freimaurerfreunde … Obwohl ich eher glaube, dass Haydn ein Freimaurer war, wie ich eine Rotarierin bin. Im schönen Einverständnis, dass ich ein Prädikat für meinen Club darstelle und nur vereinzelt Pflichten auferlegt bekommen kann. Meine Stimme ist dort nicht Zünglein an der Waage.

Das Wort Buddy-System ist hier nicht einmal dass Schlimmste an diesem Abschnitt. (Die drei Punkte finden sich übrigens im Original und kennzeichnen keineswegs eine Auslassung.) Ich halte es dennoch für einen unnötigen Versuch, in moderner Sprache (oder was dafür gilt) eine bald 300 Jahre alte Geschichte zu erzählen. Wirklich die Haare zu Berge stehen lassen hat mir aber dieses verschämt-unverschämte Paradieren mit der eigenen Mitgliedschaft in einem exklusiven Verein. Das wäre nicht nötig gewesen, um Haydns Mitgliedschaft bei den Freimaurern zu definieren. Gomringer ist dann auch ein gutes Beispiel dafür (wenn auch in diesem Buch nicht das einzige), wie man eine eigene Belesenheit (in litteris, weniger in musicis) mehr oder weniger subtil andeutet, indem man Elvis und Brecht einander gegenüber stellt oder Robert Walser und Dorothy Parker (in rein rhetorischen Fragen ohne jede Antwort) und last but not least noch ein Gedicht Gellerts in extenso zitiert. Es ist schade um dieses Beiwerk, denn an dessen Grund finden wir ein paar interessante und kluge Bemerkungen zu Haydns Musik und zu seinem Leben.

Dass ich nur Frauen kritisiert habe, ist Zufall. Auch männliche Schreibende haben ähnlich gesündigt. Im Übrigen ist die Anthologie in Bezug auf die Geschlechter einigermaßen ausgewogen. Das Großkapitel III ist den Frauen in Haydns Leben gewidmet – seiner Gattin und seinen Geliebten. Zum Schluss finden wir nicht nur eine Kurzbiografie Haydns sondern auch welche (noch kürzere) der Beitragenden und – was viele freuen wird – der Übersetzenden.

Vielleicht hätte man auch diese Sammlung in der vorliegenden Art nicht veröffentlichen sollen. Was ursprünglich je einzeln gedacht war, als Begleitung eines ganz bestimmten Tonträgers mit einer ganz bestimmten Sinfonie Haydns, ist in der Menge ganz einfach nicht genießbar. Ein wenig kommt es mir vor wie ein Festmahl, bei dem Köche und Köchinnen verschiedenster Ausrichtung und Qualität wild durcheinander Gänge servieren. So kann man sich am besten Essen den Magen verderben. Vielleicht hätte ich auch nicht alle Texte hinter einander lesen sollen …

Zum Schluss aber noch jener Essay, der mich am meisten gefreut hat. Jener Essay, der tatsächlich einer ist und dazu noch ausgezeichnet geschrieben, voll von Witz und (nicht nur) musikologischem Wissen, ein Beweis dafür, dass es die beiden Wörter tatsächlich miteinander verwandt sind. Leider ist die Freude an diesem Essay auch mit großer Trauer verknüpft: Als ich das Buch kaufte, konnte ich es noch nicht wissen – nämlich, dass mein Lob von Alfred Brendels Aufsatz (Haydn: Ordnung und Widerspruch) zugleich zu einem Nachruf auf den Autor werden würde. Brendel wendet sich in seinem Essay gegen das Bild von Haydn als zwar gutem, aber doch etwas langweiligen Komponisten, der hinter dem Vorgänger Händel einerseits und dem Nachfolger Beethoven andererseits zurück zu treten hätte. Vor allem auf dessen Humor, dessen musikalische Spielereien und Scherze weist Brendel gerne hin. Völlig zu Recht weist er auf die subtilen textimmanenten Scherze hin, die Sterne so gern verwendete. (Hier ist ein literarischer Vergleich für einmal wirklich angebracht.) Solche Aufsätze wie diesen hätte ich mir mehr gewünscht. Und weniger Rockstars und Rotarierinnen. Brendels Tod ist ein großer Verlust für sowohl die Musikwissenschaft wie für die an Laien gerichtete Musik-Literatur. Aber vielleicht kann er ja nun wirklich mit Haydn sprechen und es ihm persönlich mitteilen, nämlich seine Antwort auf die oben genannte zweite Standardfrage:

Dass er mich glücklich gemacht hat wie kaum ein anderer.


Haydn! Eine literarische Sinfonie. Herausgegeben von Alain Claude Sulzer. Berlin: Aufbau, 2025. [Es handelt sich um einen Sonderdruck der Anderen Bibliothek, der für einmal gleichzeitig mit deren eigentlichen, nummerierten Ausgabe erschienen ist. Da mich die Karton-Bauchbinden der der Anderen Bibliothek seit je ärgern, habe ich gleich zum Sonderdruck gegriffen. Eine literarische Sinfonie ist das Buch allerdings nicht. Eher eine Kakophonie …]

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 8

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