Als mir angeboten wurde, vorliegendes Buch von Eberhard Hilscher als Rezensionsexemplar zu erhalten, leuchtete irgendwo in meinem Hinterkopf ein schwaches Lämpchen auf – den Namen hatte ich schon gehört. Wann und wo konnte ich nicht sagen – und ich weiß es auch heute nicht. Wahrscheinlich war es sein Kurzgeschichten-Band Die Entdeckung der Liebe, über den ich in Zusammenhang mit dem darin ebenfalls erscheinenden Immanuel Kant gestolpert bin – wohl ohne das Buch allerdings dann gelesen zu haben. Ein kurzes Zitat auf dem aktuellen Buchumschlag, das mich in Wortwahl und Stil an Paul Scheerbart erinnerte, tat ein Übriges: Ich bat um ein Rezensionsexemplar.
Eberhard Hilscher kam 1927 in der Mark Brandenburg zur Welt, studierte dann in Berlin und lebte als freier Schriftsteller und Literaturwissenschaftler in der DDR. Wegen letzterem wird er auch gern als „DDR-Schriftsteller“ bezeichnet, aber das verleitet zu falschen Schlüssen. Nach der Wende drückte er seinen Stolz darüber aus, dass er nie einen DDR-Literaturpreis erhalten habe. Er war kein Dissident, lebte aber wohl tatsächlich in einer Art inneren Emigration in der DDR. Seine Werke durften – meist erst nach strenger Zensur – in der DDR erscheinen. Die Wende brachte ihm selber keine solche. Die beiden Verlage, bei denen er bisher veröffentlicht hatte, überlebten die Wiedervereinigung nicht lange. Hilscher betrachtete die Wiedervereinigung als eine Art kapitalistischer Kolonialisierung des Ostens durch den Westen: Nachdem alle interessanten Artefakte geraubt waren, überließ man die Kolonie ihrem Schicksal. (Ich wage tatsächlich nicht, mir vorzustellen, wie das heutige Europa aussehen könnte, wäre damals im Westen nicht der libertäre Kapitalismus überall Staatsreligion gewesen, eine Doktrin, die davon ausging, dass man den ehemals sozialistischen Staaten nur den Kapitalismus zu bringen brauche – Freiheit und Demokratie würden automatisch folgen.) Hilscher, um zu ihm zurück zu kehren, fand nach der Wiedervereinigung zunächst mit der Edition q eine neue verlegerische Heimat, einer Tochtergesellschaft eines Fachverlages für Zahnärzte. Irgendwann wollten dann die Dentisten keine Kultur mehr subventionieren und Hilscher verlor auch diesen Publikationsort. Der Kontakt zu einem weiteren Verlag implodierte, als er für eine Anthologie dieses Verlags eine Kurzgeschichte einsandte, die (unter anderem!) eine satirische Überzeichnung eines Verlegers zum Inhalt hatte. Der potenzielle neue Verleger fühlte sich persönlich angegriffen und reagierte mit einer patzigen öffentlichen Gegensatire.
Das Original der Geschichte findet sich auch in der vorliegenden Sammlung. Hilschers Satire ist einigermaßen harmlos und vor allem: nicht persönlich. Sie existierte nämlich schon, bevor Hilscher die vermeintliche Chance erhielt, in der Anthologie zu publizieren. Rendezvous der Träumer, Narren und Verliebten lautete die Überschrift einer Mappe, in der der Autor von Zeit zu Zeit eine Kurzgeschichte ablegte, die er also wohl zusammen mit den anderen veröffentlicht sehen wollte. Alles in allem enthält die Mappe gemäß Nachwort des Herausgebers 22 Geschichten, von denen 15 nun hier im Flur Verlag veröffentlicht wurden. (Über den Grund der Nicht-Berücksichtigung der anderen sieben Geschichten oder auch nur deren Inhalt erfahren wir leider nichts.)
Das Buch fängt an mit der Geschichte Im freien Fall zwischen Ende und Anfang. Es erzählt davon, wie der ehemalige Schauspieler Dagobert Schaetzel eines Nachts, in seinem siebzigsten Frühjahr, sich fiebrig fühlte. Eine ganze Armee Bakterien befand sich auf dem Durchmarsch vom Magen zum Dickdarm. Gina, Herrin seines Hauses und (ehemals) seines Herzens, suchte mit Chinarinde, Kakao und Moostee zu lindern und zu stopfen, so gut sie konnte. […] Doch es half nichts. Schaetzel fällt schließlich doch in einen allerdings unruhigen Schlaf. Darin glückte es ihm, aufs Dach der Welt zu fliegen. Dort darf er feststellen, dass er offenbar jünger geworden ist. Der Ischiasnerv quält ihn nun ebenso wenig mehr wie seine Magen-Darm-Geschichte, er kann ohne Brille lesen, seine Falten im Gesicht haben sich gefüllt, seine Haare sind wieder mehr und dunkler geworden. Dann verwandelt sich die Welt-Plattform in einen Bühnenraum. Die Kollegen und Kolleginnen begrüßen ihn, wie wenn er nie weg gewesen wäre. Er glaubt, seine Abschiedsvorstellung werde noch einmal wiederholt. Es ist dann aber nicht Kleists Prinz von Homburg, der gespielt wird sondern Shakespeares Hamlet. Die Aufführung wird trotzdem zu einem riesigen Erfolg. Wie aber staunt Scharmützel, als er am nächsten Tag kaum noch begrüßt wird und auch an Stelle einer Haupt- nur eine Nebenrolle spielen soll. Am übernächsten Tag ist er nur noch Komparse und wird von allen übersehen. Nicht nur seine Stellung ist geschrumpft, auch sein Lohn. Als er sich beschwert, meint der Leiter abschätzig, in seinem Alter dürfe er noch keine Ansprüche stellen. Abermals betrachtet sich Schaetzel in einem Spiegel – und siehe da: Nicht der alte Mann, der erfahrene Schauspieler, blickt da heraus, sondern ein Jungspund. Schaetzel realisiert nun, dass er sein Leben rückwärts noch einmal durchläuft. Er will die Chance packen, wenigstens mit seinen Geliebten von damals besser umzugehen, was nur halb gelingt. Irgendwann geht er dann wieder aufs Gymnasium, ein Jahr lang sogar zusammen mit seinem Sohn. Der wird zwar sein bester Freund, aber ein Treffen mit dessen Vater wird dann doch nicht geschildert. Schließlich erleben wir das Kleinkind, das von seiner Mutter mit Spielzeugautos bespaßt wird. Schaetzel wird müde und sehnt sich nach Geborgenheit, nach Rückkehr in den Mutterschoß. An diesem Punkt erwacht er – und in diesem Moment war ich nahe daran, das Buch enttäuscht wegzulegen. Der Traum ein Leben: Das kennen wir spätestens seit Grillparzer, Das Leben ein Traum sogar seit Calderón. Und dass man sein Leben rückwärts durchmacht, ist auch nicht neu – ohne das Traummotiv hat sich schon Kants Freund Theodor Gottlieb von Hippel daran versucht, von moderneren Autoren ganz zu schweigen. Zum Glück las ich dann doch die letzten paar Worte der Erzöhlung. Seine Sehnsucht nach dem Mutterschoß führt Dagobert Schaetzel dahin, etwas Warmes und Weiches zu spüren: Ewiger Friede …, denkt er noch. Dann erwacht er ganz und hört seine Frau Gina ihn einen Wüstling schimpfen. Und weiter:
“Dagobert, närrischer Kerl! Doch nicht so spät in der Nacht! Und denk an deinen kranken Kopf.“ Aber der große Gebieter und Parodist des Schöpfungsprinzips machte sie still. Da legte sie sich bequem.
Ende der Geschichte. Und nun wurde mir klar, dass Hilscher nicht nur die oben genannten Autoren mit ihren Lebensträumen insgeheim parodiert – es ist Dagobert Schaetzels Geschichte auch eine Parodie des Heinrich Faust, wie ihn Goethe im zweiten Teil seines Faust darstellt. Auf seine Weise geht auch Schaetzel hinab zu den Müttern, bzw. zu seiner Mutter. Und von dort, wo er den ewigen Frieden empfängt in Form von unbedingter (Mutter-)Liebe, kann er ebenso wie Faust zurück kehren und verjüngt und gesund wieder Liebe empfinden für Gina.
Ich mag solche literarischen Vexierspiele. Mit neuem Elan habe ich dann auch weitergelesen.
Ich kann und will nun nicht alle fünfzehn Geschichten im Detail zusammenfassen und / oder erklären. Natürlich sind nicht alle gleich gut, obwohl keine wirklich abfällt. Dass sie aus verschiedenen Epochen von Hilschers Schaffen stammen, macht sich bemerkbar, ist aber alles andere als ein Manko.
Ein kurzer Überblick soll dennoch sein:
Eine weitere Liebeserklärung haben wir zum Beispiel gleich in der zweiten Geschichte vor uns, Nocturne b-Moll und fünf Stimmen, wo in der Bibliothek des Ich-Erzählers (offenbar eines Schriftstellers) des Nachts manchmal Stimmen zu hören sind. Es melden sich nämlich die Figuren zu Wort, über die bzw. von denen der Schriftsteller geschrieben hat (seltsamerweise dieselben, über die auch Hilscher geschrieben hat). Auch in der Nacht der Erzählung ist es so, und wieder einmal streiten sie über ihren Vorrang. Doch eine einzige, schweigsame Frauengestalt lässt die verstummen. Es handelt sich um Nofretete – aber dahinter steht die Frau des Ich-Erzählers, Ute. (Seltsamerweise heißt sie wie Hilschers reale Frau …)
Wir finden in diesem Buch viele phantastische Erzählungen ebenso wie Science Fiction – oft auch eine Mischung von beidem – aber auch anderes. Sehr häufig sind Satiren, nicht nur politische sondern zum Beispiel auch über den Literaturbetrieb (Der Rezensionsautomat oder Die schwarze Kunst der Buchkritik, wo eine Art Künstlicher Intelligenz ohne Wissen der Zeitungsredaktionen die Rezensionen eines berühmten Kritikers schreibt, indem sie die leeren Worthülsen einer streng sozialistischen Kritik sinnlos aneinander reiht). Gedächtnisprotokolle eines Diktatorspielers ist dann politisch. Der Text nimmt das Gerücht auf (oder war es wirklich so?), dass Stalin sich Doppelgänger besorgt habe, die in gefährlichen Situationen seine Rolle übernehmen mussten. Hier heißt der Diktator Ferro, und wir erleben an Hand der im Titel genannten Gedächtnisprotokolle, wie eines Tages der Doppelgänger den eigentlichen Ferro beseitigt, nur um sich selber wieder einen Doppelgänger zuzulegen, der dann wiederum ihn beseitigt. Erst Ferro IV gibt zu Protokoll, keinen Doppelgänger mehr anzulegen und allein die die Illusion ewiger Lebens- und Regierungszeit erwecken zu müssen. Andere Satiren betreffen Ulbricht und Honecker, und es ist offensichtlich, warum die zur Zeit der DDR in diesem Heft mit den anderen Geschichten abgelegt werden mussten. Ein Tag – ein Leben (wir sehen: Hilscher kannte diese Wortkombination durchaus!) ist hingegen eine Satire auf das Leben im wiedervereinigten Deutschland. Ein junges Pärchen erhält von einem geheimnisvollen Wesen, das im kosmischen High-Tech-Flugmobil die Erde umkreist, das Angebot, vierundzwanzig Stunden lang alle seine Wünsche erfüllt zu kriegen. Sie erfüllen sich dabei nicht nur sexuelle Phantasien, sondern besuchen, warum auch immer, zunächst den Zoo-Konny (d.i.: Konrad Lorenz) und – in einem Anfall von Zweifel, ob sie nicht besser getan hätten, statt nur schöne Dinge für sich selber zu wünschen, sich der Menschheit anzunehmen – auch die Turmgesellschaft. Hinter dem Namen der Geheimgesellschaft aus Goethes Wilhelm Meister verbirgt sich das ehemalige Max-Planck-Institut für Zukunftsfragen und Friedensforschung des Gespanns Carl Friedrich von Weizsäcker und Jürgen Habermas. Doch die vorgegebenen vierundzwanzig Stunden sind vorbei. Das seltsame außerirdische Wesen ermahnt die beiden noch, ihres Todes eingedenk zu sein – dann ist die Geschichte zu Ende. Ernsthafter – nämlich sich mit dem Thema ‚Verfolgunswahn‘ auseinandersetzend, ist die Geschichte der jungen Frau, die Wand an Wand mit dem Mörder lebt, zugleich ein Spiegelbild einer paranoiden Gesellschaft, in der jeder der Mörder eines jeden sein könnte. Oder zumindest ein Stasi-Spitzel.
Wir sehen: Das Buch wimmelt von Anspielungen und Parodien. Neben den schon genannten finden wir zum Beispiel auch eine des Stils und der Erzählweise des sozialistischen Realismus, wo Kuba, Hemingway, Storm, Keller und Eichendorff wild zusammen gemischt werden. Einzig den zu Beginn erwarteten Scheerbart habe ich dann nur als Spurenelement gefunden. Ich zweifle, dass Hilscher ihn gekannt hat.
Doch ich habe Scheerbart nicht vermisst, im Gegenteil. Hilscher zündet in den vorliegenden rund 250 Seiten ein literarisches Feuerwerk vom Feinsten. Jede Geschichte weist je eigene Schönheiten auf; jede Geschichte kennt ihre eigenen Quirks, hat ihre eigenen Pointen. Hilscher verdiente es, (wieder) bekannt zu werden. Vorliegende Auswahl ist sicherlich ein guter Einstieg in seinen Kosmos.
Eberhard Hilscher: Rendezvous der Träumer, Narren und Verliebten, Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Volker Oesterreich. Heidelberg: Flur Verlag, 2025. (Erschienen in der Reihe Das blaue Licht.)
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.