Verschiedene der zu ihrer Zeit recht bekannten, heute aber eher als verschollen geltenden Autoren aus jener Epoche in der deutschen Literatur unmittelbar bevor Goethe das Feld komplett umpflügte, hatten bereits zu Lebzeiten weniger den Ruf eines Dichters (Frauen gab es kaum). Die meisten zwar hatten als Dichter (meist als Lyriker) begonnen. Irgendwann aber war ihr Repertoire aufgebraucht bzw. hatte sich die Literatur in eine andere Richtung entwickelt. Die meisten verlegten sich deshalb am Ende ihrer Karriere auf eine Tätigkeit als Vermittler und Ermöglichender von Literatur. Bei vielen sah das dann so aus, dass sie den Nachwuchs förderten, indem sie ihm Mäzene zuhielten (Hagedorn, Gleim). Andere blieben im weitesten Sinn literarisch tätig, wechselten aber sozusagen die Seite. Sie betätigten sich nun eher als Herausgeber und Literaturtheoretiker (wie Ramler) oder Übersetzer. Ein solcher war (unter anderem) auch unser Weiße hier. (Unter anderem war er der erste, der Louis-Sébastien Merciers seminale Utopie Das Jahr 2440 ins Deutsche übertragen hat!)
Letzteres war auch der Fall bei Christian Felix Weiße. Besonders bei ihm ist, dass er, wo er weiter als Dichter unterwegs war, das Zielpublikum sozusagen austauschte. So wurde er schon zu Lebzeiten als Autor von pädagogisch fundierten Büchern für Kinder und Jugendliche bekannt. Pädagogik war ein großer Trend zu jener Zeit. Das Fach brachte unter dem Zeichen einer Reformpädagogik namhafte und bis heute bekannte Männer hervor wie Pestalozzi oder Basedow. Spezielle Literatur für diese Altersstufe galt nun als berechtigt und wichtig, um die jungen Leute dort abzuholen, wo sie von ihrer geistigen Bildungsstufe zu finden waren. Weiße stand hier an vorderster Front.
Dabei war er als Dichter (Lyriker) für Erwachsene gar nicht so erfolglos gewesen. Das beweist auch das vor mir liegende Buch. Nach eigener Aussage im Vorbericht war die Nachfrage nach seinen Gedichten immer noch groß genug, um sie gesammelt in einer zweibändigen Ausgabe als Kleine lyrische Gedichte noch einmal herauszugeben. Tatsächlich haben wir hier wohl alle wichtigen Einzelausgaben seiner Gedichte versammelt. (Weshalb die Sammlung Moritz August von Thümmel gewidmet ist, erschließt sich mir nicht – außer, dass es natürlich ein literaturpolitischer Wink mit dem Zaunpfahl ist, indem hier ein Autor sein Buch nicht mehr irgendwelchen adligen Mäzen:innen widmet, wie damals üblich, sondern einem Kollegen in litteris.)
Zum Inhalt der zwei Bände:
Da sind zu Beginn die Scherzhaften Lieder. Das ist der frühe Weiße, der Anakreontiker. Die Gedichte gehören sicher zum Besseren, das diese Richtung in Deutschland hervorgebracht hat, und man versteht den Enthusiasmus des Publikums. Eher seltsam muten uns heute wohl seine Amazonenlieder an, wo so genannte neue Amazonen teils durch Unterstützung männlicher Soldaten, teils durch eigene Teilnahme an einem nicht näher definierten modernen Krieg mit Schusswaffen und Kanonendonner teilnehmen. Die Ausgangssituation der Gedichte ist seltsam, und wenn es darum geht, Schlachten zu schildern, ist ihm sein Dichterkollege Kleist als Soldat und daher Fachmann bei weitem überlegen.
Im zweiten Band finden sich dann die Werke des Literaturvermittlers Weiße. Wir haben zu Beginn zwar abermals Kriegslieder, aber dieses Mal als Übersetzungen aus dem Griechischen des Tyrtaios (den Weiße im Stil der Zeit latinisiert als Tyrtäus schreibt). Wie sehr sich Weiße hier als Übersetzer und nicht als Autor fühlte, zeigt schon der Umstand, dass diese Elegien zweisprachig gedruckt worden sind, links die griechische Version, rechts Weißes Übertragung. Das in Weißes Zeit einsetzende Interesse an der altnordischen /germanischen Dichtung zeigt König Regner Lodbrogs Sterbegesang, wenn ich mich nicht irre, eine Teilübersetzung der isländischen Ragnars saga lodbrokar. Literaturgeschichtlich interessant: Themenwahl und Ausführung weisen hier beim der Aufklärung zuzurechnenden Weiße bereits romantisch-nationale Tendenzen auf. Es folgen Nachahmungen und Uebersetzungen aus dem Horatz[sic!], dieses Mal ohne Originaltext, da Weiße doch sehr frei übersetzt.
Interessanter wieder sind die Lieder für Kinder. Es handelt sich hier um den wohl ersten Versuch in der deutschen Literatur, Gedichte speziell für Kinder zu verfassen, die dann eben auch ‚pädagogisch wertvoll‘ sind – was man damals darunter verstand. Sie enden praktisch immer mit einer expliziten Nutzanwendung für die Kleinen. Allerdings fuchtelt Weiße manchmal gar heftig mit dem Zaunpfahl der Parabel… Uns heutigen fällt auf, dass er oft Situationen nimmt, die eigentlich der anakreontischen Lyrik entsprungen sind. Weiße ‚entschärft‘ sie, indem das Liebespärchen der Anakreontik nun zu Brüderchen und Schwesterchen wird, womit auch ihr Liebesgesang harmlos wird. Zumindest in der Auffassung jener Zeit – uns wird es das eine oder andere Mal eher gruseln. Die in derselben Sammlung enthaltenen, auf die Natur bezogenen Gedichte sind ihm da meiner Meinung nach besser gelungen. Ebenfalls harmloser aus heutiger Sicht sind die den alten Tierfabeln entnommenen Gedichte. Kleines Aperçu nebenbei: In einem Gedicht finden wir eine Anspielung auf die Liliputaner, und Swift wird in einer Fußnote sogar explizit genannt. Die Lieder für Kinder sind 1767 erschienen. Wir haben hier also das Phänomen, dass keine 50 Jahre nach dem Erscheinen von Gulliver’s Travels (1726) auf Englisch, und nur 5 oder 6 Jahre nach der ersten deutschen Übersetzung die Liliputaner bereits zum Stoff für – Kinder geworden sind.
Danach wird es etwas disparat im zweiten Band. Die nun folgende Elegie bey dem Grabe Gellerts ist wohl eher dem Zeitgeist und eigener Stimmung geschuldet; Ewigkeitswert darf dieses kleine Werk nicht beanspruchen.
Anschließend finden wir erneut Übersetzungen. Weiße übertrug nicht nur alte (antike oder mittelalterliche) Literatur sondern auch welche aus seiner Gegenwart – bezeichnenderweise für den Zeitgeist nicht französische sondern englische. Weshalb es aber ausgerechnet John Drydens Ode auf Alexander den Großen sein musste, vermag ich nicht zu sagen. Den Abschluss der zwei Bände machen dann von Weiße selber so genannte Kleinigkeiten, Epigramme und ähnliche Kurzware ohne literarische Bedeutung.
Zusammenfassend möchte ich behaupten, dass man Weiße heute durchaus noch lesen kann. Jedenfalls so man Interesse hat an jener Zeit, als sich im deutschen Sprachraum nicht nur in der Philosophie sondern auch in der Literatur die Aufklärung durchzusetzen begann.
Noch ein Wort zu meiner Ausgabe, dem Buch, das vor mir liegt. Ich habe oben gesagt, dass offenbar die Nachfrage nach Weißes Lyrik noch groß genug war, dass es sich lohnte, eine zweibändige Ausgabe auf den Markt zu werfen. Ich kann hier noch ergänzen, dass sie sogar groß genug war, um noch 1772 einen Nachdruck zu generieren – der dann seinerseits nachgedruckt wurde. So liegt vor mir eine bei einem gewissen Christian Gottlieb Schmieder in Karlsruhe erschienene Ausgabe. Sie war dem ursprünglichen Besitzer lieb genug, dass er die beiden Bände zusammen und in Halbleder binden ließ. Selbst ein – allerdings laienhaft – geprägtes Rückenschild gönnte er dem Buch. Dort steht dann: WEISSENS // WERCKE // I-II: B:. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob sich der Ersteller des Rückenschilds mit den WERCKEN nur auf die beiden hier zusammengebundenen Bücher bezieht, oder ob in seiner Bibliothek andere Bücher WEISSENS hinzu gestellt worden waren. Im Angebot des Antiquars war nur dieses eine Buch.