Conrad Ferdinand Meyer: Plautus im Nonnenkloster

Links der blaue Streifen des Buchrückens aus Leder. Dann, mittig, eine Federzeichnung blau auf grau: Im Vordergrund stehen ein paar Bäume links und rechts. Dazwischen steht , leicht nach rechts versetzt, eine einfache Sitzbank aus Holz. Darauf sitzen ein Mann (links) und eine Frau im Gespräch. Vor ihnen liegt ein See. Am Ufer, unter den Bäumen zur linken Seite liegt ein Ruderboot angebunden. Im Hintergrund sehen wir einige Gebäude einer Stadt. Auf Grund der zu sehenden Kirchtürme und des Sees kann die so gezeigte Stadt als Zürich identifiziert werden. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass die Schweizer Literatur-Institutionen zu bescheiden sind. (Oder fehlt es ihnen an Ressourcen? Ist es ihnen einfach egal?) Denn während uns von Deutschland her schon seit Mitte des Jahres 2024 der 150. Geburtstag Thomas Manns um die Ohren gehauen wird, selbst der ebenfalls 150. Rilkes nicht vergessen wurde, habe ich bisher zumindest in den Main Stream-Medien, egal welcher Nation, kaum etwas davon gehört oder gelesen, dass sich dieses Jahr – genauer: am 11. Oktober 2025 – der Geburtstag des vielleicht besten Schweizer Lyrikers und eines der besten Schweizer Novellisten zum 200. Mal jährt. Vielleicht ist es den bescheidenen Schweizer Medien unangenehm, darüber zu berichten; vielleicht meinen die pünktlichen Schweizer:innen, es sei noch viel zu früh dafür? Ich spreche nämlich von Conrad Ferdinand Meyers 200. Geburtstag. Einzig die Zentralbibliothek Zürich sehe ich von Zeit zu Zeit schüchtern auf einen Anlass in der Region Zürich hinweisen, Meyers Heimat. Als wäre Meyer ein simpler Zürcher Heimatdichter gewesen …

Ja, Der Schuss von der Kanzel spielt am selben Zürichsee, an dem Meyer einen großen Teil seines Lebens verbrachte. Aber das ist in seinem Werk eine Ausnahme. Es ist auch dort auch keineswegs so, dass der Ort der Handlung bestimmend für diese wäre, ein bisschen Lokalkolorit ausgenommen.

Das Gleiche gilt auch für die vorliegenden Novelle. Ort der Handlung ist zwar die Ostschweiz (genauer: Münsterlingen im Kanton Thurgau), der „Held“ der Novelle aber ist Italiener.

In einer klassischen und für Meyer typischen Novellenstruktur mit Rahmenerzählung und Binnenerzählung erfahren wir die Geschichte des Brigittchens von Trogen (wie die Novelle in der ersten Zeitschriften-Veröffentlichung noch hieß). Diese Frau ist Äbtissin in einem Nonnenkloster in der Ostschweiz, dem oben genannten Münsterlingen. Nicht ihre Geschichte steht aber in der endgültigen Fassung im Mittelpunkt. Dafür müssen wir kurz zum Anfang der Novelle zurück kehren. In der Rahmenerzählung nämlich befinden wir uns nicht in der Schweiz sondern in Florenz. Die Novelle spielt im 15. Jahrhundert, am Hof des berühmt-berüchtigten Cosimo de’ Medici, der es zu Stande gebracht hatte, aus Florenz eine der führenden Städte Italiens und damit des Humanismus und der Renaissance zu machen. An seinem Hof befindet sich auch der Humanist Poggio Bracciolini – ebenfalls eine real existierende Figur: Sekretär von fünf Päpsten, als solcher tatsächlich Teilnehmer am das Kirchen-Schisma beendenden Konzil von Konstanz, später auch wirklich noch am Florentiner Hof tätig. In seiner Zeit in Deutschland durchforstete er tatsächlich die dortigen Kloster auf der Suche nach Handschriften mit Texten aus der Antike. Einige der berühmtesten antiken Werke wurden so von ihm wieder einem Publikum zugeführt, daarunter tatsächlich auch die Komödien des Plautus.

Bei Meyer nun finden wir ihn, wie gesagt, zu Beginn der Novelle bereits in Florenz. An seinem Hof, in einem Kreis gebildeter Florentiner, bringt Cosimo de’ Medici den Humanisten dazu, eine noch unveröffentlichte „Facetie“ zu erzählen. Darunter verstand man damals (und die Literaturgeschichte bis heute) komische, manchmal recht derbe und / oder erotische Kurzgeschichten. Tatsächlich war es unser Poggio hier, der solche Texte in die Literatur des Humanismus einführte. Er lässt sich dann auch überreden, eine solche „Facetie“ zum Besten zu geben. Mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung in der Mitte verbleibt der Text dann in der Binnenerzählung. Erst der Schluss findet wieder in dieser Florentiner Gesellschaft statt. Man hat sich durchaus amüsiert, allerdings verläuft die Diskussion über Pioggios Erzählung rasch im Sand und die Gesellschaft wendet sich anderen Themen zu. Meyer bzw. der auktoriale Erzähler geht darauf nicht weiter ein, aber es zeigt sich in dieser Novelle eine doch sehr pessimistische Einschätzung der Wirkung literarischer Texte selbst auf ein gebildetes Publikum.

In der Binnenerzählung ist Poggio dann selber der „Held“ und berichtet in der Ich-Form ein eigenes Abenteuer. Während alle Welt und auch die dort anwesenden Sekretäre in Konstanz auf die Wahl des neuen Papstes warten (der für Pioggio kein anderer sein kann als Oddo di Colonna – der dann auch tatsächlich als Martin V. zum Papst gekürt wurde) … während also alle warten, benutzt Pioggio die Muße, um im nahe gelegenen Nonnenkloster Münsterlingen (das Gebäude steht noch heute) nach der Handschrift mit den Komödien des Plautus zu suchen, von der er weiß, dass sie dort ist. Er weiß aber auch, dass ein ungeschickter Kollege von ihm die Äbtissin unfreiwillig auf den Wert aufmerksam gemacht hatte, die so eine Handschrift in gewissen Kreisen haben konnte. Die Handlung spielt dann auf zwei Ebenen. Da ist zuerst Pioggio, der die Appenzeller Äbtissin des Klosters überlistet, überredet, sogar recht eigentlich erpresst, sodass sie tatsächlich mit dem Manuskript herausrückt. Das kann er aber nur, weil er auf der zweiten Ebene einen Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte alten Betrug aufdeckt, mit dem das Kloster junge Frauen davon überzeugte, dass sie ins Kloster eintreten sollten. Mit seiner Entdeckung rettet Pioggio eine solche junge Frau, Gertrud, vor dem Kloster, in das sie eigentlich nur eintreten will, weil sie als junges Mädchen dies einmal der Jungfrau Maria gelobt hatte, falls sie ihre Mutter von einer schweren Krankheit retten und am Leben erhalten würde. Nun aber, wie es ernst wird, schreckt sie vor dem Klosterleben zurück.

Ohne seinen Pioggio ein Wort darüber verlieren zu lassen, zeigt uns Meyer in der Art, wie sein Protagonist vorgeht – geistesgeschichtlich korrekt –, die zunehmende anti-katholische Gesinnung der Renaissance. Der generell religionskritische Unterton der Erzählung stammt hingegen wohl eher von Meyer selber und wurzelt wahrscheinlich in einem tiefen Pessimismus des Autors. Bezeichnenderweise erfahren wir mit keinem Wort, dass der frühe Reformator Jan Hus durch eben dieses Konzil in Konstanz verbrannt wurde. Es ging Meyer eindeutig nicht darum, hier eine protestantische Kampfschrift zu verfassen. Selbst die Äbtissin, obwohl sie von Pioggio eine Zeitlang als eher diabolische Gestalt geschildert wird, ist letzten Endes nur eine getäuschte Frau.

Pioggios abschätzigen Bemerkungen über die deutsche Sprache im Allgemeinen, den speziell hässlichen und unverständlichen lokalen Dialekt im Besonderen – dies immer in Gegensatz gestellt zur eleganten und wohl klingenden italienischen Sprache – weisen nicht nur auf die tatsächlich existierende Überheblichkeit in Bezug auf ihre Sprache hin, den viele der italienischen Humanisten aufwiesen und den zum Beispiel auch Erasmus von Rotterdam kritisierte. Dass diese geistesgeschichtlich korrekte Einstellung breiteren Raum einnimmt, ist wohl auch ein Seitenhieb Meyers, jenes Mannes, der in seiner Jugend eine Zeitlang überlegte, auf Französisch zu schreiben und eine akademische Laufbahn als Romanist einzuschlagen. Denn schon seine Zürcher Zeitgenossen waren kaum frankophil eingestellt.

Meyer hielt die vorliegende Erzählung für eine seiner schwächeren. Wenn nun aber die schon so gut ist …

Conrad Ferdinand Meyer: Feiern wir ihn! Lesen wir ihn! Fleißig, wie Lessing sagen würde.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 14

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