Dieses Buch war der zweite Teil des Überraschungs-Pakets, von dem ich heute vor einer Woche gesprochen habe: Band 6 der seit einiger Zeit neu herausgegebenen Werkausgabe von Barthold Heinrich Brockes. Ich wusste zwar, dass mir noch ein Teil seines Irdischen Vergnügens in Gott fehlte; nur: auch hier hatte nicht mehr mir einer Lieferung gerechnet. Aber ja: Werkausgaben dauern lange und heute würde ich keine mehr abonnieren.
Band 6 der Brockes-Werke also enthält bei genauerer Betrachtung neben dem neunten und letzten Teil (also nicht der neunte und der letzte Teil; der neunte Teil ist zugleich der letzte!) des Irdischen Vergnügens in Gott mit der Harmonischen Himmels-Lust im Irdischen (so auf dem vorderen Umschlag) noch ein Werk des Hamburger Amtmanns Brockes. Dabei gilt aber zu beachten, dass beide Werke postum erschienen sind. Beim Irdischen Vergnügen fungierte der Hauslehrer seiner Kinder als Herausgeber, bei der Harmonischen Himmels-Lust einer seiner Söhne. (Verschiedene kleinere Schriften und Übersetzungen werden im Titel nicht erwähnt, sind aber ebenfalls in diesen Nachlass-Band integriert.)
Die beiden postumen Herausgeber, Hauslehrer und Sohn, haben ihre Aufgabe sicher nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt; aber es war zu jener Zeit (Mitte des 18. Jahrhunderts) noch gang und gäbe, dass der Verwalter eines schriftstellerischen Erbes mit diesem schalten und walten konnte, wie er für gut befand, ohne auf großen Widerspruch des Publikums zu stoßen. So finden wir – ohne dass es dem zeitgenössischen Publikum mitgeteilt worden wäre – im 9. Teil des Irdischen Vergnügens auch viele Gedichte, die Brockes für den letzten von ihm redigierten Band 8 noch aussortiert hatte und die nun der Herausgeber dennoch der Öffentlichkeit vorstellte. Vielleicht hatte Brockes selber noch gespürt, was wir heute so sehr vermissen in diesem Nachlass-Band: Seine dichterische Begabung hatte sich erschöpft und anstatt beim Anblick von schöner und schön geschilderter Natur, wie er es in den früheren Bänden getan hatte, mehr oder weniger nebenbei den Schöpfer zu loben, der dies alles so schön gemacht hatte, predigte er nun nachgerade über Gott und erwähnte die Natur nur noch exemplifizierend und nebenbei. Bezeichnend für die Haltung der Herausgeber ist der Umstand, dass als Anhang der Hauslehrer eine kleine Schrift Brockes’ mit dem Titel Anleitung zum vergnügten und gelassenen Sterben veröffentlichte. Was heute eher makaber klingt, war damals noch anders. Ein vergnügtes Sterben bedeutete vor allem eines ohne Angst – Angst vor einer himmlischen Strafe nach dem Tod. So haben wir hier – versifiziert! – eine halb stoische, halb protestantische Auseinandersetzung mit dem Tod vor uns. So oder so aber eine – Predigt.
Die vom Sohn herausgegebene Himmels-Lust andererseits enthält einiges an sehr frühen Sachen von Brockes. Diese sind sprachlich wie inhaltlich viel näher an den besten Gedichten der frühen Bände des Irdischen Vergnügens. Ihre Schwäche ist es nun aber statt „nicht mehr“ halt „noch nicht“ die Qualität aufzuweisen, die Brockes in den Werken seiner Meisterzeit lieferte. Interessant sind aber einige der Kantaten, die Brockes geschrieben hat und die nicht nur von adeligen Freunden und Gönnern sondern immerhin teilweise auch von einem Telemann oder einem Händel vertont worden sind. (Allerdings ist darunter auch so einiges, das man bereits in früheren Bänden des Irdischen Vergnügens in Gott finden konnte.)
In den kleineren Schriften, deren Entstehung sich über das ganze Leben von Brockes verteilt, finden wir frühe naturphilosophische, ja fast naturwissenschaftliche Gedichte über die Einteilung verschiedener Metalle und Erden, und auch eine über die der Pflanzen (von Carl von Linné wusste er aber offenbar noch nichts).
Summa summarum lernen wir in diesem 6. Band seiner Werkausgabe den Autor Brockes sicher noch besser kennen. Allerdings ist dieser Band, finde ich, eher menschlich berührend als literarisch, weil wir hier einem Autor zuschauen, der seine dichterische Kraft im Alter verloren hat.
Barthold Heinrich Brockes: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur, Nebst seinen übrigen nachgelassenen Gedichten, als des Irdischen Vergnügens in GOTT Neunter und letzter Theil. / Harmonische Himmels⸗Lust im Irdischen, oder auserlesene, theils neue theils aus dem Irdischen Vergnügen genommene, nach den 4 Jahres⸗Zeiten eingerichtete Musicalische Gedichte und Cantaten. (= Werke, Band 6. Herausgegeben und kommentiert von Jürgen Rathje. Göttingen: Wallstein, 2025)