(Ich weiß, dass ‚man‘ heute nicht mehr Amerika liest, sondern Der Verschollene. Will sagen: Nicht die ursprünglich von Max Brod aus den Fragmenten rekonstruierte Form dieses Romans, sondern eine Version, die die Literaturwissenschaft heute aus den Notizen Kafkas rekonstruieren zu können glaubt. Ich bin kein Kafka-Spezialist, will mich also dazu auch nicht äußern – außer, um darauf hinzuweisen, dass natürlich viele, so auch ich, den Roman in der Version von Max Brod kennen gelernt haben. Wie es mit Übersetzungen steht, weiß ich gar nicht. Jedenfalls hat sich Gonçalo M. Tavares mit seinem ‚Re-Enacting‘ ganz eindeutig auf einen Text Kafkas bezogen, der in Amerika spielt. So oder so sind die ersten sechs Kapitel in ihrer Form ziemlich gut gesichert, erst danach weichen die Versionen von einander ab. Brod war der Meinung, Kafka hätte im Gespräch die Absicht geäußert, diesem Roman einen versöhnlichen Schluss zu geben, indem der Protagonist Karl Roßmann nicht nur Karriere macht, sondern auch seine Eltern wieder findet; die heutige Literaturwissenschaft ist der Meinung, dass Roßmann – wie die Protagonisten in andern Romanen und Erzählungen – von Kafka de facto zum Tode verurteilt war. Wie gesagt, kann ich mich dazu nicht äußern.)
Der Roman fängt damit an, dass wir den sechzehnjährigen Karl Roßmann treffen, wie der Dampfer, auf dem er die Überfahrt von Europa gemacht hat, im Hafen von New York eintrifft. Schon das erste Kapitel (das auch separat als Der Heizer veröffentlicht wurde, als einziger Teil des Romans noch zu Kafkas Lebzeiten) bringt drei Hauptmotive des Romans bei.
Da ist das Labyrinth, zu dem das Schiff für Roßmann plötzlich wird, aus dem er nicht mehr allein herausfindet und in dem er an Orten landet, die er vorher nicht kannte, ja, von deren Existenz er nicht einmal wusste. An diesen Orten wiederum lernt er Leute kennen, von der Existenz er vorher genau so wenig wusste. Was ihn allerdings nicht daran hindert, diese Leute immer wieder belehren zu wollen. Später wird er sich auch in der Villa eines reichen Freundes verirren – einzig in der Stadt New York geschieht im das nicht, obwohl man denken könnte, so eine Großstadt wäre dazu prädestiniert.
Das zweite Leitmotiv wird von den Vater- (und, zum Teil: Mutter-)Figuren repräsentiert – Figuren, die ihn auch jedes Mal verstoßen. Zuerst der Vater, der den Knaben (denn mehr ist Roßmann ja eigentlich noch nicht) mir-nichts-dir-nichts auf ein Schiff nach Amerika steckt, nur weil er sich von einem Dienstmädchen hat verführen lassen, woraus denn auch ein Kind hervorspross. In New York trifft er zufälligerweise auf seinen Onkel, der ihn aufnimmt und ihm Unterricht in Englisch und im Reiten geben lässt. Aber auch der wird ihn verstoßen, als Karl gegen seinen Willen eine Nacht bei einem befreundeten Millionär verbringt. Es folgen zwei Muttergestalten: Die Oberköchin eines Hotels, die ihn verstößt, weil er gegen den Kodex der Liftjungen (als solcher arbeitete er dort) gesündigt hat. Dann die dicke Brunelda, deren Beschäftigung einigermaßen unklar ist und die ihn als Diener annimmt. Aber auch sie wird ihn nicht lange bei sich behalten. (Dass Karl auch selber Vater ist, spielt merkwürdigerweise im ganzen Roman keine Rolle, außer als Begründung für seine Fahrt nach Amerika.)
Nummer 3 sind die seltsamen Kommunikationsformen, die Karl pflegt. Er glaubt immer wieder zu verstehen, was sein Gegenüber von ihm will – und antwortet immer wieder so, dass er sein Gegenüber vor den Kopf stößt und / oder in seiner schlechten Meinung von ihm, Karl, befestigt, wenn er doch gerade diese entschärfen wollte.
Das alles kennen wir aus dem Schloß, aus dem Proceß, aus vielen Kurzgeschichten. Dort verwendet Kafka diese Motive mit unnachahmlicher Meisterschaft. In Amerika aber übt er eindeutig noch. Die seltsame Stimmung einer Geschichte, die Kafka durch die Verwendung dieser drei Motive erzielt, und die man heute „kafkaesk“ nennt, funktioniert in den späteren Romanen und Geschichten, weil diese in ihrer Gesamtheit in einer höchst irrealen und absurden Welt spielen. Amerika aber ist zu sehr in der Realität des beginnenden 20. Jahrhunderts verankert, mit den Auswanderungen nach den USA und der Tatsache, dass die dort Ankommenden keineswegs mit offenen Armen begrüßt wurden, und so mancher davon wirklich in der Gosse landete und dort zu Grunde ging. Aber Realismus war Kafkas Ding nicht. Und so haben wir einen etwas unerquicklichen Zwitter vor uns mit einer Hauptfigur, die agiert, wie wenn sie aus einem Roman von Kafka stammen würde, dies aber in einer Welt, die durchaus realistisch genommen werden will / muss. Das macht aus einem kafkaesken Protagonisten ein etwas unreifes Bürschchen, das dazu offenbar gewisse geistige Handicaps zu überwinden hat.
Man lese Kafkas Kurzgeschichten oder die beiden anderen großen Romane. Amerika nicht notwendigerweise.
Hab hier als Kassette von S. Fischer eine Gesamtausgabe in Version von Max Brod und war gerade am Überlegen, welches der nächste Roman sein sollte (nach _Der Prozeß_). Amerika umschiff ich nun und fasse dann _Das Schloß_ als nächstes ins Auge.
Und das war dann somit der praktischste Tipp, den ich bislang aus der Lektüre dieses Blogs erhalten habe.