Meine erste und bisher einzige Lektüre von Christa Wolf ist nun schon einige Jährchen her. (Ich glaube, es war damals Kein Ort. Nirgends.) Ich konnte mich weder mit Stil noch mit Inhalt des Buchs anfreunden. Schon damals war ich einer von denen, die in solchen Fällen beschließen, den lieben Gott einen guten Mann und die betreffende Schriftstellerin eine gute Autorin sein zu lassen – aber nichts für mich. Es gab für mich damals (und gibt es heute noch immer) in der Welt der Literatur genügend zu entdecken. Später wurde auch noch ihre frühere Tätigkeit für die DDR-Stasi bekannt und ich hatte definitiv keine Lust mehr auf sie. Allerdings scheint diese Entdeckung mehr oder weniger ein Sturm im Wasserglas gewesen zu sein und sich einigermaßen in Minne aufgelöst zu haben. Jedenfalls hört man nichts mehr darüber.
Dem sei, wie dem ist. Mein Interesse an Christa Wolf doch noch wieder geweckt hat nun die Büchergilde mit einer von Nadine Prange illustrierten und dieses Jahr (2025) erschienenen Ausgabe des Romans Kassandra, die im Übrigen auf der Suhrkamp-Ausgabe von 2008 beruht. Also nach Jahren auf Wolf zurück gegriffen und zu lesen begonnen. Der Roman, um ihn den Inhalt kurz zu skizzieren, erzählt die Ereignisse vor, während und nach dem Trojanischen Krieg, aber er erzählt sie aus Sicht der Verlierenden. Das bedeutet aus Sicht der Trojaner, genauer: aus Sicht der Trojanerinnen. Denn die Frauen sind es, die in diesem Krieg am meisten leiden, am meisten verlieren. Ja, Männer werden getötet und ihre Leichen gefleddert; aber Frauen werden auch noch geraubt, entführt, verkauft, vergewaltigt (sogar als Tote noch!).
Was soll ich sagen? Wolf hält sich in ihrer Erzählung recht nahe an den klassischen Mythos, auch wenn sie das eine oder andere Detail uminterpretiert. Sie lässt Kassandra in der Ich-Form erzählen. Gleich zu Beginn hat mich die Autorin damit gepackt. In einer hinreißenden, klagenden und doch kristallklaren und brutalen Erzählung hören wir Kassandra zu, wie sie von ihrem Schicksal berichtet. Nicht chronologisch, denn die Erzählung setzt am Ende ein. Kassandra ist vom Sieger Agamemnon nach Mykene mitgenommen worden. Dort hat ihn dessen Frau, weil sie ihn nach rund 10 Jahren Abwesenheit nun auch nicht mehr brauchte, mit der Hilfe ihres Geliebten umgebracht. Sozusagen als Kollateralschaden wird auch Kassandra umgebracht werden, und das weiß sie als Seherin natürlich. Während sie darauf wartet, dass das Mörderpaar zu ihr vordringt, erzählt sie ihre Geschichte.
Es zeigt sich rasch: In dieser ganzen Geschichte, die auch die Geschichte des Trojanischen Krieges, die auch die Geschichte des trojanischen Königshauses ist und des trojanischen Untergangs, stellen die Frauen immer einen Kollateralschaden dar. Wolfs Roman ist ein harter und brutaler Stoff, im Großen und Ganzen allerdings eine faszinierende Lektüre. Nur ein kleiner Wermutstropfen hat sich bei mir eingestellt. Kassandra erzählt ihre Geschichte, wie schon gesagt, in der Ich-Form. Das ist in den vielen Momenten, in denen sie oder andere Frauen zu Schaden kommen, ungeheuer eindrücklich. Daneben aber finden wir auch – natürlich, denn Kassandra soll ja ein ganz normale Frau vorstellen – weniger dramatische Erlebnisse, Anekdoten vom trojanischen Königshof sozusagen. Hier zeigt sich Kassandra als eher eitle und selbstbezogene Person. Es war wohl Christa Wolfs Absicht, ihre Titelheldin nicht allzu edel erscheinen zu lassen. Aber mir zumindest ging deren Selbstgefälligkeit, in der ersten Person erzählt, gehörig auf den Wecker. Ich weiß von Leuten, die den jungen Joseph in der gleichnamigen Tetralogie Thomas Manns, der einen ähnlichen Charakter aufweist (denn ja: auch er ist ein von einem Gott Berufener und weiß es und bildet sich zumindest zu einem gewissen Zeitpunkt einiges darauf ein – wie Kassandra) … ich weiß also von Leuten, die den jungen Joseph am liebsten eigenhändig in den für ihn bestimmten Brunnen geworfen hätten. Dabei ist, weil Thomas Mann auktorial in der dritten Person erzählt, diese Figur bedeutend erträglicher gestaltet als die eingebildete Kassandra, für die es – weil sie selber die Kontrolle über die Erzählung hat – keine auktoriale Ironie als Korrektiv gibt. Erst mit dem Schluss dann wieder, wo wir Kassandra abschließend in ihrem Elend finden, kurz vor ihrer Ermordung, vermochte Christa Wolf mich wieder so ganz zu packen. Wer weiß, wenn sie den Mittelteil in der dritten Person geschrieben hätte?
Mein Fazit ist also ein bisschen durchzogen. Ich bereue summa summarum nicht, das Buch gelesen zu haben. Ich beabsichtige aber auch nicht, noch einen weiteren (fiktiven) Text von Christa Wolf zu lesen.