Letzten Oktober habe ich hier auf Wielands Peregrinus Proteus hingewiesen. Wielands Werk hat die Form eines Totengesprächs zwischen Peregrinus und dem Berichterstatter seines Todes, Lukian (von Samosata). Wieland schildert darin nicht nur, wie postmortal eine Freundschaft zwischen den beiden entsteht, er füllt auch die Zwischenräume, die Lukians Bericht in des Peregrinus Lebenslauf gelassen hatte. Wielands Peregrinus ist ein ein Schwärmer, der sich von vielem – u.a. auch vom Christianismus – begeistern lässt, mehr Verführter denn Verführender, mehr Opfer als Täter. Und wie schon im Oktober festgehalten, hat Wieland viel vom eigenen Lebenslauf in den des Peregrinus fliessen lassen.
Schon bei der Lektüre Wielands war mir klar, dass ich das Original des antiken Spötters Lukian auch noch lesen musste. Das ist nun geschehen. Ich muss Wieland das Kränzchen winden, dass er es verstanden hat, Lukians Text zu erweitern, des Perergrinus Lebenslauf zu ergänzen, ohne dem Original ins Handwerk zu pfuschen. Lukians Peregrinos verfügt ja tatsächlich in vieler Hinsicht über einen recht rudimentären Lebenslauf. Die riesigen Lücken darin würden jeden heutigen Personalchef äusserst misstrauisch stimmen. Der antike Peregrinos ist tatsächlich so etwas wie ein Scharlatan, ein Volksverführer, der unter dem Deckmäntelchen der Ideologie (sei es nun Christianismus oder Stoa) letzten Endes nur eigensüchtige Motive und Ziele verfolgt.
Lukian verspottet in seiner Erzählung aber nicht nur Peregrinos, sondern auch seine Anhänger. Er zeigt, wie verführbar und dumm solche unbedingten Anhänger einer Partei bzw. Sekte sind. Dass er dabei über eine gewissen Kenntnis der Einrichtungen des frühen Christentums verfügt, erstaunt – andererseits schreibt er dann der frühchristlichen Kirche auch Einrichtungen zu, über welche diese keineswegs verfügte. Lukian hat sich offenbar also informiert, ebenso offenbar aber nicht bei einem profunden Kenner. Zum Beispiel ist der Umstand, dass Peregrinus in einem bestimmten Moment seines Lebens zugleich Mitglied der philosophischen Sekte der Stoiker und der religiösen der Christen gewesen sein soll, eher unwahrscheinlich, und zeigt höchstens, wie nahe in den Augen von Aussenstehenden die beiden Strömungen sich standen. (Nicht, dass sich keine stoischen Einflüsse auf die Ideologie der frühen Christen nachweisen liessen!) Den Religions-Geschichtler interessiert, dass Lukian bei den Christen einen Sektengründer annimmt, der nicht derselbe gewesen ist, wie derjenige, der sozusagen die ‚Statuten‘ des Christentums gezimmert hat – also Christi Rolle von der des Paulus unterscheidet, ohne allerdings einen der beiden je beim Namen zu nennen.
Ich weiss nicht, ob Lukians Peregrinus Proteus bei dessen Abschaffung 1965 noch auf dem Index Librorum Prohibitorum des Vatikans stand. Auf diese Liste geschafft hatte er es wegen der Darstellung des Sterbens von Pergrinus, wo der Ich-Erzähler sich brüstet, wie er diesen Tod jenen erzählt habe, die nicht dabei waren:
Bei den Dummen, die nach der Geschichte gierten, trieb ich das Tragödienhafte noch etwas weiter, zum Beispiel, dass, als der Scheiterhaufen aufflammte und Proteus sich hineinwarf, zunächst ein gewaltiges Erdbeben geschah und der Boden aufstöhnte, sodann ein Geier aus der Mitte der Flamme aufflog zum Himmel und in Menschensprache laut rief: „Die Erde verließ ich, steige auf zum Olympos.“
Die Kirche sah darin eine Verhohnepipelung des Todes Christi und der folgenden Auferstehung, insbesondere auch, weil der Spötter Lukian der Himmelfahrt noch eine Epiphanie, ein Erscheinen des vergöttlichten Peregrinus, hinzufügte. Da war aber wohl eine gewisse Überempfindlichkeit der Zensoren am Werk; ich denke so wenig wie die Kommentatoren meiner Ausgabe, dass Lukian so viele Gedanken an die zu seiner Zeit noch recht kleine Sekte der Christianer verschwendet hat. Der Geier weist eher auf eine Saitre gegen die grassierende Sucht der Römer hin, ihren verstorbenen Kaisern im Übermass jene Ehren zukommen zulassen, die sie ihnen zu Lebzeiten entweder geradeaus verweigerten oder nur unter Zwang zukommen liessen.
(Witzigerweise hat übrigens auch der Ich-Erzähler der Selbst-Verbrennung des Pergrinus nicht bis zum Ende beigewohnt – was den Verdacht der vatikanischen Zensoren wohl nur vergrössert hat.)
Alles in allem eine äusserst vergnügliche Lektüre.
PS. Ich habe mit vorliegendem Text zum ersten Mal in meinem Leben ein ‚echtes‘ e-book gelesen. (Eigentlich ja nur, weil ich zu dumm bin, den Anweisungen auf der Internet-Bestell-Seite der WBG folgen zu können und statt Papier Bits und Bytes bestellt habe.) Ein ‚echtes‘ e-book – will sagen, mit allem Brimborium eines Adobe-DRM. Meine Abneigung gegen diese Form des Lesens besteht weiterhin. Dass nun irgendjemand bei Adobe weiss, dass ich Lukians Peregrinos gelesen habe, stört mich weniger. Da ich nicht beabsichtige, den Text vom aktuellen Speicherplatz auf z.B. einen sog. ‚Reader‘ zu transferieren, ist mir auch das DRM im Moment egal. Aber auch die Möglichkeit, dem elektronischen Text elektronische Notizen beizufügen, versöhnt mich nicht mit der flachen Lektüre am flachen Bildschirm.