Harald Welzer: Alles könnte anders sein

Alles könnte anders sein, soll heißen: Besser. Welzer ist es darum zu tun, den zahlreichen dystopischen Entwürfen eine positiv konnotierte Sicht der Zukunft entgegen zu setzen. Er macht das mit mehr-weniger Geschick, manchmal blauäugig, dann wieder kreativ und anregend; insgesamt fehlt es dem Buch jedoch an einer klaren Struktur, nachvollziehbaren und in sich konsistenten Ideen.

Problematisch – wie häufig in solchen Büchern – ist der Glaube an eine Einbindung des Bürgers in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs. Das klingt hübsch und angenehm, wird aber durch die Realität in fast allen Fällen ad absurdum geführt: Bestes Beispiel ist etwa die „Willkommenskultur“ von 2015, von liberaler Seite (zu Recht) begrüßt, alsbald aber in großen Teilen umschlagend in ihr Gegenteil, in Fremdenangst und Intoleranz. Solche positiven Bewegungen leben zumeist (recht kurz) von einem sich selbst verstärkenden Gefühl des „Gutseins“, man fühlt sich wohl im Saft der eigenen Humanitätsduselei und vergisst, dass es mit dem Schenken von Plüschtieren und der momentanen Rettung aus einer prekären Situation nicht getan ist. Tatsächlich muss man nicht nur helfen wollen, sondern dem anderen auch Respekt entgegenbringen, darf nicht nur auf die momentan wohltuende Dankbarkeit hoffen, sondern muss eine prinzipielle Bereitschaft besitzen, den Flüchtling als Menschen anzuerkennen – und zwar für immer. Hilfe und Integration enden nie, weil es immer Menschen gibt, die der Hilfe bedürfen.

Welzer singt dabei das Lob der emanzipierten Ziviligesellschaft – und in seiner Begeisterung für die (theoretischen) Möglichkeiten einer solchen sind seine Ausführungen bis zur Fahrlässigkeit dumm. So stellt er fest, dass der immer stärker institutionalisierte Anspruch auf Gleichbehandlung zu einer „Delegierung von Solidarität“ führen würde. „Nehmen wir das Beispiel, dass eine Schülerin, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, es sicherlich begrüßt, wenn in ihrer Schule ein Fahrstuhl eingebaut wird, der es ihr erspart um Hilfe bitten zu müssen. Andererseits nimmt der Fahrstuhl die Notwendigkeit der solidarischen Hilfe aus dem sozialen Raum heraus – kein Schüler muss sich mehr zur Hilfe veranlasst sehen und zusammen mit anderen die Rollstuhlfahrerin die Treppe hinauftragen.“ Das ist nicht nur unendlich dumm und bar jeder vernünftigen Einsicht, sondern auch gefährlich: Es impliziert ein Sozialsystem ähnlich dem der USA, wo die soziale Grundversorgung (selbst medizinische Dienste wie Zahnbehandlung) der wohltätigen Gesellschaft übertragen werden. Man hat keinen Anspruch darauf, dass der schmerzende Zahn gezogen, Kinder mit Essen versorgt werden, sondern ist auf den guten Willen der anderen angewiesen (die diese Leistungen jederzeit einstellen können), man ist Almosenempfänger und kann nur hoffen, dass sowohl die Freundlichkeit als auch die finanziellen Möglichkeiten der Samariter noch lange erhalten bleiben. Ein wirklich funktionierender Sozialstaat, der den Hilfsempfänger nicht als Bittsteller betrachtet und mit allerlei bürokratischen Schikanen erniedrigt, lebt vom gesetzlichen Anspruch, den in Not geratene Menschen erheben können. (Ganz ähnlich verhält es sich mit zahlreichen anderen Leistungen: Sobald kein Rechtsanspruch besteht, werden vor allem die ärmeren Schichten zu Almosenempfängern degradiert, von denen Dankbarkeit eingefordert wird und die, sollten sie sich nicht erwartungsgemäß devot verhalten oder gar auf Menschenrechte rekurrieren, sehr schnell als faul, dumm und undankbar abqualifiziert werden – wie etwa auch Flüchtlinge, die sich gegen den jahrlangen Aufenthalt in entsprechenden Heimen wehren. Das aber empfindet der selbstgerechte Bürger, dessen Tochter gerade zwei von 100 Stofftieren verschenkt hat, als Zumutung – und außerdem hatte man sich doch gerade so wohlgefühlt in dem von der ganzen Welt attestiertem Altruismus.)

Dem grundsätzlichen Bemühen Welzers, in einer Welt von Miesepetern und Schwarzsehern auch einmal etwas Positives zu versuchen, kann ich einiges abgewinnen. Viele Dinge sind möglich, wenn man sich über kleingeistige Denkgewohnheiten hinwegsetzt und auf die unsäglich dummen Arbeitsplatzargumente verzichtet, wenn man etwa Städte für Menschen plant und nicht für Autos (eine überholte, umweltschädlich und antiquierte Technologie soll aussterben, Stellmacher, Schriftsetzer und Fassbinder hat dieses Schicksal auch ereilt) oder aber – und hier bin ich völlig bei Welzer – die Internalisierung von wahren Kosten für alle Produkte erreicht werden soll: Was neuseeländische Kiwis unerschwinglich machen würde, wobei in diese Kostenwahrheit auch vernünftige Entlohnungen für Arbeiter in Entwicklungsländern enthalten sein muss. Anderes ließe sich auch über den Preis der in Anspruch genommenen Leistung regeln: Nicht Bonusmeilen für Vielflieger, sondern Malusbedingungen: Mit jeder weiteren Flugreis in einem bestimmten Zeitabschnitt vervielfacht sich der Preis, sodass die vierte Geschäftsreise oder der Wochenendtrip nach Madrid einfach unerschwinglich werden. (Sie sind es – entsprechend der Umweltkosten – ja tatsächlich.) Wenn der Geschäftsflug nach New York plötzlich 100 000 Euro kostet, würden auch Firmen ihre Senior Manager vor den PC setzen und an der Bildschirmkonferenz teilnehmen lassen.

Was an Welzers Buch, seinen Ausführungen am meisten stört, ist aber die Tatsache, dass er sich häufig in dümmlicher Polemik ergeht, die um nichts gehaltvoller ist als die von Klimawandelleugnern und Verbrennungsmotorfetischisten. So spürt man bei ihm eine latente Technikphobie (tatsächlich sind natürlich viele Gadgets vollkommen überflüssig, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass unser Leben im Gefolge dieser technischen Forschung angenehmer geworden ist als vor einigen hundert Jahren) oder Bildungsskepsis (er entblödet sich nicht festzustellen, dass der Holocaust von Menschen mit Doktortiteln auf den Weg gebracht worden wäre, um daraus zu folgern, dass Bildung und Wissenschaft zweifelhafte Güter wären*). Diese nachweislich falschen Thesen haben schon die Vertreter der Frankfurter Schule (vergeblich) verteidigt und sind eben nichts als billige Vorurteile von Menschen, die häufig mit logisch-rationalem Denken nicht viel am Hut haben. Dadurch wird der Sache einer gerechteren, nachhaltigeren Welt nur geschadet, man begibt sich auf das Niveau vorerwähnter Verteidiger eines überkommenen Weltbildes. Ich vermute, dass Welzer einfach zu viel schreibt und in Talkshows sitzt: Diskurs in Permanenz geht meist zulasten der Genauigkeit im Denken, man verstrickt sich in dümmliche Auseinandersetzungen und übernimmt das Diskussionsniveau seiner Gegner.


*) Im übrigen besagen alle Untersuchungen das Gegenteil: Bildung macht offener, weniger engstirnig. Was natürlich nicht bedeutet, dass es nicht genug engstirnige Akademiker gäbe. Aber der Durchschnitt der Hochschulabsolventen ist weniger vorurteilsbehaftet als der Rest. Auch wenn Welzer das mit Sicherheit weiß: Es passte wohl gerade nicht in den Argumentationsstrang.


Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Frankfurt a. M.: Fischer 2019.

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