Herders Metakritik an Kants Kritik der reinen Vernunft stand von Anfang an unter keinem glücklichen Stern. Anlass für deren Entstehen und Veröffentlichung war wohl, wie Herder selber ausführt, der Umstand, dass bei den Prüfungen von Kandidaten der Theologie mehr und mehr festgestellt wurde, dass die jungen Männer zwar blutwenig von der Theologie und von ihrem zukünftigen Job verstanden, dafür aber umso besser den Kant’schen Philosophie-Lingo zu schwingen wussten. 1799, im Erscheinungsjahr der Metakritik, stand Kants Transzendentalphilosophie so ziemlich auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, zumindest, was die deutschen Universitäten betraf. Wer etwas auf sich hielt, philosophierte à la Kant. (Ich erinnere mich noch an eine Zeit, da war an den literaturwissenschaftlichen Fakultäten der deutschsprachigen Universitäten der dekonstruktivistische Jargon im Schwange – jene noch nicht übertroffene Mischung aus Hegel, Psychoanalyse und bisher präzedenzlosem Nonsense.)
Um auf Herder zurück zu kommen: Auf dem Höhepunkt der Transzendentalphilosophie eine Metakritik zu präsentieren, war gewagt, dessen war sich Herder bewusst. Aber hier stand er nun und konnte nicht anders. Tatsächlich wurde Herders Buch, wo es denn zur Kenntnis genommen wurde, völlig verrissen. Und noch in dem 1984, bereits nach der Wende, erschienen 7. Band der Briefe Herders sprachen dessen Herausgeber sinngemäß von der Metakritik als etwas Ungeschicktem, ja Dummem. Das ist allerdings nun eher ein ebenso dummes Nachplappern von nicht hinterfragten Urteilen der Vergangenheit.
Herder ist daran, seien wir ehrlich, nicht ganz schuldlos. In seiner Wut, in seiner Verzweiflung wohl auch, schlägt er des öfteren mit dem allzu groben satirischen Zweihänder um sich. Dadurch macht er sich aber tatsächlich auf einer nicht-philosophischen Ebene angreifbar. (Und solche Angriffe sind immer einfacher als eine genaue philosophische Analyse von Argumenten. Herder, der seit jeher zwar austeilen konnte, aber nicht einstecken, litt unter diesen Reaktionen sehr.) Wozu, lieber Herder, soll es gut sein, zum Beispiel Kant die Verwendung der Pluralform Schemate vorzuwerfen und dann zu behaupten, die Mehrzahl von ‚Schema‘ müsse ‚Schemen‘ lauten? Der Witz ist schwach und wird auch zu oft wiederholt – zumal Herder selber später durchaus die Mehrzahl ‚Schemata‘ verwendet.
Wegen solcher Kleinigkeiten (und Kleinlichkeiten) und wohl auch, weil er immer wieder versucht, Kants vierfache Wurzeln der Erkenntnis (i.e.: die Kategorien) durch eigene zu ersetzen, die nun, anders als er meinte, nicht mehr Daseinsberechtigung haben als die Kant’schen Originale, verlor Herder den Rest des philosophischen Rufs, den man ihm noch beigelegt hatte. Zu Unrecht, aber Parteilichkeit ging schon damals vor Gerechtigkeit – auch und gerade unter Philosophen. Tatsächlich legte Herder – und legte schon vor ihm Hamann, die beiden haben große Teile der Metakritik zusammen erarbeitet – den Finger in eine doch recht klaffende Wunde der Kant’schen Theorie: Woher stammen Kants Kategorien der Erkenntnis und welchen Stellenwert haben sie in der ‚Realität‘?
In seiner Metakritik geht Herder – und das machte ihn wohl in den Augen seiner Zeitgenossen endgültig als Kant-Kritiker unmöglich – hinter Kant zurück auf den Punkt, den dieser überwunden zu haben aussagte. Herder setzt noch einmal an beim Empirismus, bei David Hume. Der Intellekt als Tabula rasa, in den nun die Eindrücke von außen eindringen. Doch wie werden die einströmenden Sinnesdaten tatsächlich erfasst, kategorisiert?
Wie es die Titel der beiden Teile andeuten, bringt Herder zwei Ansätze bei. In konsequenter Anwendung der Tabula-rasa-Theorie geht er davon aus, dass ein Verstand, der gerade erst mit Sinnesdaten gefüttert wird, nicht gleich von Beginn weg über Kategorien verfügt, mit denen er die Erfahrung einordnen (oder eben: kategorisieren) kann. Und nun formuliert er, vorsichtig und deshalb ein bisschen schwammig, die These, dass die Erfahrung zugleich ihre Kategorie mitbringe, bzw. im Intellekt zu formen beginne. Anders formuliert: Nicht der Mensch trägt seine Erkenntnis in die Natur, sondern die Natur formt die menschliche Erkenntnis. Aus heutiger Sicht können wir vielleicht sogar die geschichtsphilosophische Aussage treffen, dass Kants Ansicht a priori vorhandener Kategorien die spätere rücksichtslose Ausbeutung der Natur mittels modernster menschlicher Technik begünstigt hat, während für Herder der Mensch mit a posteriori gebildeten Kategorien mehr ein Teil der Natur ist; die Ausbeutung der Natur durch Industrialisierung wäre mit Herder unmöglich gewesen.
Nun weiß auch Herder, dass kaum ein Mensch beim Sammeln der ersten Erfahrungen einzig auf sich selber gestellt ist. Um ihn herum sind andere Menschen, die diese Erfahrungen bereits gemacht und kategorisiert haben. Anders als die Tiere verfügt der Mensch über ein Mittel, diese Erfahrungen und Kategorien zu tradieren: die Sprache. Anders gesagt, und das ist Herders zweiter Punkt: Unsere Kategorien der Erkenntnis sind (auch) tradierte sprachliche Produkte und haben jenseits eben dieser Sprache weder in der Realität noch in der Idealität zwangsläufig irgendwelche Entsprechungen. Die Sprache verleitet uns Menschen zu Vor-Urteilen, denen wir dann Realität zusprechen. (Ja, ich weiß: Ich hypostasiere hier selber.) Lange vor Sapir und Whorf stellte Herder also deren Hypothese zumindest in Teilen schon auf. Man hat sie heute in ihrem absoluten Anspruch wieder fallen lassen, in abgeschwächter Form gilt sie aber immer noch.
Fazit: Herders Metakritik ist bedeutend besser als ihr Ruf. Man sollte sie wieder einmal lesen.