Das Hauptproblem der „Straße“ ist die metaphysische Unterfütterung mit Sinn, mit einer Botschaft, die über die erzählte Handlung hinausweist – vielleicht ein Grund für den Erfolg dieses Romans (während ich allergisch auf derlei mit tiefgründiger Weisheit ausgestatte Welterklärungsmodelle reagiere). Das bleibt im vorliegenden Buch außen vor: „Verlorene“ (Originaltitel „Suttree“, der Name des Protagonisten) erzählt vom Leben in einer heruntergekommenen Vorstadt von Knoxville, Tennessee. Schwarze, Aussteiger, Vorbestrafte, Obdachlose, Sonderlinge – alle Außenseiter einer Gesellschaft – bilden das Personal dieses Romans, werden Suttree zur Seite gegeben, der selbst aus bürgerlichen Verhältnissen zu stammen scheint (ganz aufgelöst wird der Grund für die Abkehr von seiner Familie, sein Rückzug auf ein Hausboot nicht). Und im Grunde besteht der Roman aus einer fortgesetzten Beschreibung dieser Elenden, die da krank, verachtet, durch Alkohol betäubt vor sich hin vegetieren.
Suttree lebt – im Gegensatz zu all den anderen – freiwillig in dieser Umwelt: Mit seiner Familie zerstritten, von seiner Frau getrennt, das gemeinsame Kind stirbt während dieser Zeit, das Begräbnis, bei dem er nicht erwünscht ist, wächst sich zur Katastrophe aus. Ein verdreckter Fluss, in dem Kadaver treiben, Öllachen, gebrauchte Kondome, eine völlig vermüllte Umgebung, in der sich die einzelnen Personen irgendwie einrichten, unter Brücken leben, in aus Treibgut notdürftig zusammengefügte Hütten, zwischen Gewalt, Perversion, Verrücktheit. Ein wenig Menschlichkeit unter einigen Bewohnern, ansonsten ein Sich-Einrichten in einer fortgesetzten Katastrophe, unterbrochen nur von Alkoholexzessen, Aufenthalten im Arbeitshaus oder Gefängnis. Es gibt keine Ziele, noch nicht mal den Wunsch, dem allen zu entkommen: Weil es schlicht undenkbar ist.
Die Bilder, mit denen McCarthy diese Vorhölle beschreibt, sind drastisch, aber sehr viel treffender, eingängiger als in der „Straße“: Denn sie müssen nicht über sich hinausweisen auf eine metaphorisch-allegorische Ebene, sondern dienen einzig dazu, die Ausweglosigkeit und stumpfe Verzweiflung eines solchen Lebens zu illustrieren. McCarthy entgeht dabei (zumeist) den oft strapazierten Klischees solcher Schilderungen: Sich unter rauhem Kern verbergende, edle Charaktere, der Mär von der Verbrecherehre (wie es selbstverständlich ist, dass Gangmitglieder – wie die Mitglieder jeder Gruppe – sich im Regelfall unterstützen, so ist es ebenso klar, dass der Zusammenhalt einzig dem Erfolg der Gemeinschaft dient; wird dieses Ziel – aus welchen Gründen auch immer – fragwürdig, so ist sich in der Verbrecherclique jeder sich selbst der nächste – genau wie bei allen anderen). Dabei gelingen dem Autor einige großartige Figuren: Wie Gene Harrogate, ein beschränkter, kleiner Gauner, der seine sexuellen Bedürfnisse auf einem Melonenfeld befriedigt, angeschossen wird und im Arbeitshaus auf Suttree trifft, der ein wenig die Beschützerrolle für den 18jährigen übernimmt. Hässlich, mit verfaulten Zähnen und seltsamen, im Regelfall gesetzeswidrigen Ideen zum Gelderwerb könnte er eine mitleidheischende Figur sein, doch zwischen das Bedauern für den ohne familiären Rückhalt Aufgewachsenen mischt sich immer auch Abscheu ob seiner Charakter- und Gefühllosigkeit: Gerade das aber macht ihn so bemerkenswert, so lebendig.
Genau diese Beschreibungen machen das Buch lesenswert, weil sie sich auf die deskriptive Ebene beschränken und bestenfalls implizit eine Botschaft vermitteln. Die wenigen Passagen, welche als eine Form von Lebensphilosophie der Hauptfigur gelesen werden können, fallen weniger ins Gewicht (nur manchmal will die Darstellung der Haltung Suttrees ein wenig idealisiert erscheinen: Ein solches Leben am Rande des Abgrundes kann bestenfalls erträglich, niemals aber erfüllend sein). Und mit einem weiteren kleinen Ärgernis wird man gegen Ende des Buches konfrontiert: Suttree erkrankt schwer und der Autor fühlt sich bemüßigt, den Fieberphantasien seiner Figur allzu viel Raum zu geben. Wie so oft, wenn Protagonisten in Traumwelten versinken (ich pflege regelmäßig unruhig zu werden, wenn irgendjemand in einem Roman die Augen schließt), dienen dieselben nur zur aufdringlich metaphorischen Ausgestaltung eines „tieferen“ Sinnes, der sich zumeist dem aufmerksamen Leser ohnehin erschlossen hätte oder aber durch das poetisch-allegorische Mäntelchen ein wenig ungenießbar wird. – Unabhängig davon würde ich diesen Roman sehr viel eher zur Lektüre empfehlen als „Die Straße“: Authentischer, genauer und ohne aufdringliche Sinngebung.
Cormac McCarthy: Verlorene. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2008.