Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten., sein Tagebuch aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, und LTI – Notizbuch eines Philologen, seine Analyse der nationalsozialistischen Sprache, machten aus Victor Klemperer den Beobachter und Berichterstatter von innen (und unten), der zu sein sich Erich Kästner vorgenommen hatte, als er beschloss, Deutschland nicht wegen der Nationalsozialisten zu verlassen – ein Berichterstatter, der Kästner aber nicht geworden ist. Kästner scheiterte wahrscheinlich einerseits an der schieren Menge an Dingen, die er zu berichten gehabt hätte, andererseits an der Tatsache, dass nach dem Krieg der ‚offizielle‘ Literaturbetrieb der BRD die Autor:innen des inneren Exils mehr oder weniger ächtete. Klemperer blieb ebenfalls in Deutschland, in Dresden; er aber machte sich von Anfang an Notizen; für ihn waren Tagebuch wie LTI mit Sicherheit ein strategischer Rückzugsort, an dem und von dem aus er die Ungeheuerlichkeiten, die er sah und hörte, einordnen konnte – ein dem Philologen (also dem Textwissenschaftler) in ihm unabdingbarer Vorgang, um nicht den Verstand zu verlieren. So war Klemperer schon unmittelbar nach dem Krieg bereit, anders als Kästner.
Denn während die Tagebücher erst ab 1995 erschienen, kam das Notizbuch eines Philologen zum ersten Mal bereits 1947 heraus, noch in der sowjetischen Besatzungszone. Vor mir liegt ein schmales Büchlein, ein Auszug nur aus dem LTI. Der Begriff LTI selber ist eine Abkürzung des Lateinischen Lingua Tertii Imperii, was auf Deutsch genau das heißt, was auch der Titel der Auswahl ist: Die Sprache des Dritten Reichs. Dass Klemperer einen lateinischen Ausdruck verwendete, lag vielleicht auch daran, dass er hoffte, seine Notizen würden so bei einer allfälligen Wohnungsdurchsuchung den Nazi-Schergen nicht in die Augen fallen. Die Abkürzung LTI könnte nicht nur ein Seitenhieb auf den Abkürzungsfimmel der Nazi gewesen sein, sondern auch eine den Inhalt verschleiernde Taktik.
Wir finden – jedenfalls in der vorliegenden Auswahl – in diesem Text den beobachtenden und beschreibenden Philologen wieder, der in Haltung und Stil eindeutig an Michel de Montaigne geschult ist. In verschiedenen kleinen Kapiteln werden die diversen Aspekte der sprachlichen Neuregelung im Nationalsozialismus betrachtet. Solche Kapitel heißen zum Beispiel Runenzeichen, oder einfach nur Namen. Auch System und Organisation finden wir, Eine Sprache des Glaubens oder „Verjudet“. Die Sprache des Antisemitismus etc. etc. In solchen Kapiteln beleuchtet Klemperer Phänomene wie die Umdeutung von Begriffen oder deren Ersetzung durch vermeintlich neutrale (aber sofort mit faschistischem Inhalt gefüllte), aber auch die Erhöhung des Führers durch Formulierungen, die ursprünglich in der Bibel für die Erhöhung Jesu Christi zu Gott verwendet wurden. Hauptquelle für die Sprache des Dritten Reiches war für ihn weniger Hitler selber als vielmehr der äußerst begabte Rhetoriker Goebbels (dessen Fimmel, sich überall mit „Doktor Goebbels“ anreden zu lassen und auch alle Erlasse so zu unterschreiben, schon Klemperer aufgefallen ist).
Klemperer begnügt sich in seiner Analyse keineswegs damit, den Sprachgebrauch eigentlicher Nazis zu untersuchen. Genau so wichtig ist für ihn der Einfluss der LTI auf die Sprache der durchschnittlichen Deutschen, ja sogar der Jüdinnen und Juden. Durch die Übernahme des nationalsozialistischen Narrativs übernahmen die durchschnittlichen Deutschen wie die Intellektuellen aus seiner Sicht eine Mitschuld am Geschehen. (Ein Vorgang, der heute, wo Narrative rechtsextremer Herkunft abermals in die Sprache von Politiker:innen und Journalist:innen auch der so genannten „Mitte“ einfließen, abermals zu beobachten ist.)
Klemperers Analyse ist also auch nach 80 Jahren noch aktuell. Leider.
Victor Klemperer: Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI. Ausgewählt, herausgegeben und mit einem Essay von Heinrich Detering. Ditzingen: Reclam, 2020. [Lizenzausgabe für die Mitglieder der Büchergilde Gutenberg, 2. Auflage, 2025]