C. F. Ramuz: Sturz in die Sonne [Présence de la mort]

Links, schwarz und grau auf rot, Flecken, die im vollständigen Bild wohl die Flanke eines gerade ausbrechenden Vulkans darstellen. Rechts nur rot. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Buchcover, das seinerseits das Gemälde "Bausch" von Otto Piene verwendet hat (Öl, Acryllack und Russ auf Leinwand, 1998).

Seit etwa 15 Jahren kursiert der Begriff ‚Climate Fiction‘ (oder kurz ‚Cli-Fi‘) für etwas, das ursprünglich ein Untergenre der Science Fiction war (und meiner Meinung nach noch immer ist). Der Begriff hat sich rasch selbständig gemacht und ist heute weit verbreitet: Verlage und Buchhandel benutzen ihn, Schreibende und Lesende (und da wiederum sowohl Professionelle wie jene, die ihre Eindrücke in privaten Blogs oder Foren teilen, auf YouTube, Instagramm, TikTok oder was weiß ich). So darf es also nicht wundern, dass dieses Buch schon von Verlagsseite als „‚Climate Fiction’ von vor über 100 Jahren“ angepriesen wird und auch die professionelle Kritik auf diesen Zug aufspringt und in ihren Besprechungen diesen Aspekt des Buchs stark betont.

Wenn es dabei hilft, dem wirklich ausgezeichneten Roman mehr Verbreitung zu bringen: meinethalben. Aber, liebe Kritik und vor allem liebes Publikum: Wir haben hier keine „‚Climate Fiction’ von vor über 100 Jahren“ vor uns (oder allenfalls nur cum grano salis). Sondern etwas viel Besseres.

Zunächst einmal stimmt schon das Alter nicht, das diese Aussage dem Text gibt. (Im Folgenden stütze ich mich auf die Angaben des Übersetzers, wie er sie selber in meiner Ausgabe hinterlegt hat.) C. F. Ramuz nämlich hat tatsächlich bereits 1922 einen Roman Présence de la mort als Einzelveröffentlichung herausgegeben. Diesem Roman war allerdings kein Glück beim Publikum beschieden – ich vermute, weil er es mit seiner Kompositionstechnik hoffnungslos überfordert hat. 1941 erschien dann eine Werkausgabe von Ramuz. Présence de la mort wurde darin integriert, allerdings als

[…] vom Autor persönlich überarbeitete Fassung. In dieser Ausgabe hat der Autor am Text viele Kürzungen vorgenommen, Sätze, in einigen Fällen sogar ganze Abschnitte gestrichen sowie das eingangs erwähnte Motto. An der Handlung an sich hat der Autor aber nichts verändert. Wie die bisher im Limmat Verlag erschienenen Übersetzungen von Ramuz stützt sich auch Sturz in die Sonne auf die Fassung aus der Gesamtausgabe von 1941. Aus Ramuz’ Aufzeichnungen gehen zwei Arbeitstitel für den Roman hervor: La terre qui retombe au soleil und La fin du monde. Der Titel der vorliegenden deutschen Ausgabe stützt sich auf ersteren.

Der Übersetzer Steven Wyss im Nachwort „Textgrundlage„, S. 186f

Interessant wäre es natürlich gewesen, beide Versionen zum Vergleich zu haben, aber man darf von einem Verlag auch nicht zu viel verlangen. Jedenfalls ist der vor uns liegende Text nicht (oder nur in seinen Grundlagen, vielleicht zur Hauptsache, aber eben nicht zur Gänze) 101 Jahre alt sondern nur deren 82.

So viel zum Alter des Romans, nun zum Genre. Es ist immer so eine Sache, moderne, neue Begriffe auf Erscheinungen anzuwenden, die es lange vor dem Begriff gab, zum Beispiel den Begriff ‚Utopie‘ auf Platons Staat. Damit so etwas funktioniert, muss der Begriff (quasi retrospektiv) erweitert werden, was unweigerlich zu einer Verwässerung desselben führt. So auch für das Verhältnis von Sturz in die Sonne zu ‚Climate Fiction‘. Ja, die Erde erwärmt sich in Ramuz’ Roman – hierin stimmt er mit der aktuellen ‚Climate Fiction‘ überein. (Das Horrorszenario der Erderwärmung ist übrigens auch noch nicht so alt: Noch Ende des 20. Jahrhunderts wurde, auch von der Wissenschaft, eher befürchtet, dass sich die Erde auf Grund des übermäßigen CO2-Ausstoßes abkühlen und es zu einer Eiszeit kommen würde.) Als Grund der Erwärmung gibt Ramuz aber nicht irgendein menschliches Verhalten oder Versagen sondern einen Unfall im Gravitationssystem an. Das könnte als Science Fiction durchgehen, allerdings erklärt Ramuz das Phänomen weiter nicht – und er ist definitiv kein Naturwissenschaftler. Menschliches Versagen könnte man eventuell noch korrigieren, ein natürliches Phänomen in der von Ramuz geschilderten Dimension nicht.

Es ist halt so, dass es Ramuz gar nicht um die Ursache der Erwärmung als solche geht, nur darum, dass sie irreversibel ist und rasch voran schreitet. Denn es geht ihm um die Reaktion der Leute. Einfacher Leute. Bauern und Dorfbewohner rund um den Genfersee. Zunächst, als sich die Botschaft das erste Mal verbreitet, reagiert niemand. Als es dann tatsächlich immer wärmer wird, ist der erste Gedanke offenbar: „Gut, werden wir halt im Herbst kein Gemüse haben. Dafür wird der Wein gut.“ Nur ganz langsam sickert es in die Köpfe, dass es keinen Herbst mehr geben wird. Ramuz’ Thema ist die Haltung der Menschen – der einfachen Menschen, es gibt bei ihm keine große Politik oder Superwissenschaftler:innen, die die Welt retten oder es zumindest versuchen – der Menschen, die mehr oder weniger fatalistisch ihr Schicksal akzeptieren. Ja, es gibt Arbeiteraufstände, als es ihnen dämmert, dass eh alles vorbei ist. Und es werden zu deren Niederschlagung Soldaten aufgeboten (der Landesstreik von 1918 lag noch nicht so weit zurück!). Aber das verläuft, wie auch die zunächst gefeierten Sauforgien, schon bald im Sand (besser würde man wohl sagen: in der sengenden Sonne).

Was den Roman aber wirklich zu einem Juwel macht (und was wohl der Grund war, warum ihn das Publikum weder 1922 noch 1941 wirklich goûtieren konnten), ist seine Konstruktion. Ramuz erzählt die Geschichte in 30 kurzen, nummerierten Kapiteln. Jedes Kapitel weist eine je eigene Sprache auf. Da sind das erste und das letzte Kapitel, die in einem gehobenen, fast biblischen Ton gehalten sind. Dazwischen finden wir umgangssprachliche Gesprächsfetzen. Zwei oder drei Naturschilderungen. Nüchtern erzählte Geschehnisse stehen neben pathetisch gehaltenen Abschnitten. Kein Kapitel hängt mit den anderen zusammen, ausser, dass Ramuz seine Geschichte in einer losen chronologischen Reihenfolge der Kapitel abliefert. Selbst ein Ich-Erzähler darf nicht fehlen – mehrere Kapitel werden von so einem Erzähler vorgebracht, und es ist nicht klar, ob es sich immer um die gleiche Person handelt. Um nun selber einen Begriff ‚rückwärts‘ auszudehnen: Postmoderne avant la lettre.

Die Kapitel sind also mehr oder weniger chronologisch aneinander gereiht – von der frühen Kunde des Gravitationsunfalls bis hin zum endgültigen Sturz der Erde in die Sonne. Immer aber ist es so, dass Ramuz alltägliche Ereignisse schildert. Über das ‚große Bild‘ verfügen die Leute am See nicht*), deshalb auch der Autor nicht (und a fortiori die Lesenden auch nicht). Dennoch (oder deshalb?) bringt es Ramuz zu Stande, dass die Atmosphäre nicht nur der erzählten Erde sondern auch des erzählenden Romans immer drückender wird, immer beängstigender. Wie viel expliziten Horror musste nicht ein Cormack McCarthy aufwenden, wie viele blinde und doch sehende Spinneneier oder marodierende Banden, die Menschenbabys zum Frühstück braten, um halbwegs diese Stimmung zu kreieren! Und wie viel religiösen Kitsch musste er in hineinzwängen, um sich und sein Publikum dann doch wieder zu beruhigen! Nun muss ich zugeben, dass auch Ramuz nicht ganz auf diese Beruhigung verzichtet – wenn es denn eine ist, was er im letzten Kapitel des Romans schildert. Für den Rest aber kann er völlig auf ein solches Instrumentarium verzichten. Der Horror liegt in der Art und Weise, wie die Leute mit dem ungewöhnlichen Ereignis umgehen, liegt darin, ob und wie sie mit der Tatsache eines unausweichlichen, nicht nur rasch, sondern auf für alle zusammen erfolgenden Tod umgehen, wie sie dann auch nach und nach sterben. Das macht den Unterschied aus zwischen einem wirklich ausgezeichneten Autor und einem nur von der Kritik hoch geputschten.

Man sieht: Ich bin begeistert und kann nur eine absolute Leseempfehlung aussprechen.

*)Man müsste sich den Himmel vorstellen können, die Gestirne, die Kontinente, die Ozeane, die Äquator, die zwei Pole. Aber man stellt sich nichts vor außer sich selber und was um einen herum ist. Ich strecke meine Hand aus, ich berühre. Der Meister legt die Zeitung auf die Bank, zieht seine Uhr hervor, sieht die Zeit auf seiner Uhr. Er spürt nur, dass ihm der Hunger kommt. [Das ist der Schluss von Kapitel III, S. 16. Ramuz schildert hier in wenigen Sätzen, warum auch die heutige, tatsächlich existierende Klimaerwärmung nicht in den Köpfen der Leute ankommt – ganz ohne große und gelehrte Worte.]


Charles Ferdinand Ramuz: Sturz in die Sonne. Roman. Übersetzt von Steven Wyss / Mit einem Nachwort von Steven Wyss. 192 Seiten, Leinen bedruckt, Titel der Originalausgabe: «Présence de la mort», Éditions Georg, Genève 1922. Romans – II, Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 2005.

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